Im Interview mit dem Journalisten Ronny Blaschke spricht DFB-Präsident Wolfgang Niersbach über die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, seinen Besuch in Auschwitz und aktuelle rechtsextreme Vorfälle im Fußball.
Ronny Blaschke: Herr Niersbach, der dreiteilige Fernsehfilm "Unsere Mütter, unsere Väter" markiert einen wichtigen Punkt in der Aufarbeitung deutscher Kriegsgeschichte. Sie wurden 1950 geboren, was verbinden Sie mit dem Begriff "Aufarbeitung"?
Wolfgang Niersbach: Auch mich hat diese Fernsehreihe sehr berührt und zum Nachdenken angeregt. Mein Vater war Jahrgang 1915, er war Mitglied der Kavallerie und blieb nach dem Krieg lange in britischer Gefangenschaft, erst 1949 kam er wieder nach Hause. Er hatte als einziges von fünf Kindern Abitur gemacht und den Wunsch Lehrer zu werden, das war durch den Krieg unmöglich geworden.
Haben Sie mit Ihrem Vater über den Krieg gesprochen?
Meine Eltern waren keine Menschen, die ihr Inneres nach außen gekehrt haben, schon gar nicht bei diesem sensiblen Thema. Als ich vier Jahre alt war, zogen wir nach Düsseldorf, ich habe die vielen Trümmergrundstücke noch vor Augen. Damals war es schwer, überhaupt eine Wohnung zu finden. Mein Vater ist 1998 gestorben, mit 82 Jahren. Mit dem Wissen von heute bedauere ich es schon, ihn nicht intensiver nach seinen eigenen Kriegserlebnissen gefragt zu haben.
Sie sind ein Kinder der Wirtschafts-Wunderjahre, welche Rolle spielte der Rechtsextremismus als Unterrichtsthema in der Schule?
Leider keine große, ich habe während meiner Schulzeit mehr über die römische Geschichte gelernt als über diesen Teil deutscher Geschichte. 1976 habe ich als Journalist über die Eishockey-Weltmeisterschaft aus Kattowitz berichtet, an unserem freien Tag sind einige Kollegen und ich nach Auschwitz gefahren. Jeder, der sich dort ein Bild dieser Vernichtungsmaschinerie macht, kann nur mit jeder Faser seines Körpers sagen: Nie wieder! Damals bei meinem Besuch habe ich es nicht für möglich gehalten, dass Neonazis den Fußball noch einmal für sich missbrauchen würden.
Was meinen Sie?
Unser erstes Länderspiel nach dem Gewinn der Europameisterschaft haben wir 1996 in Zabrze gegen Polen bestritten, nicht weit von Auschwitz entfernt. Deutsche Hooligans haben bis zum Anpfiff gewartet, also bis die Fernsehübertragung begann: Sie haben ein Transparent entrollt, darauf stand: "Schindler-Juden – wir grüßen Euch!" Sie haben rassistische und antisemitische Lieder gesungen. Ich war damals Pressechef des DFB. In dem Moment kam vieles zusammen: Fassungslosigkeit, Wut, Ohnmacht.
Zwanzig Jahre später sind Neonazis noch immer in deutschen Stadien unterwegs, in Aachen, Dortmund oder Braunschweig. Was kann der DFB dagegen unternehmen?
Wir alle gemeinsam dürfen so etwas niemals akzeptieren und niemals wegschauen, wenn sich junge Fans, die sich klar gegen Diskriminierung aussprechen, auf Druck von rechten Schlägern aus dem Stadion zurückziehen. Wir werden als Verband deshalb weiterhin all unsere bestehenden Möglichkeiten nutzen, wir werden appellieren und von den Vereinen fordern, das Bewusstsein gegen Rechts nicht einschlafen zu lassen.
Ihre Appelle aus Frankfurt kommen nicht überall an.
Mir ist bewusst, dass die föderalen Strukturen manchmal an ihre Grenzen stoßen. Aber es gibt auch sehr viele positive Beispiele. Werder Bremen hat große juristische Mühen angestrengt, um ein NPD-Mitglied aus dem Verein zu werfen. Der Verein hat nachgewiesen, dass die Ziele dieses Mannes nicht mit den Werten und Zielen des Klubs übereinstimmen. Diese gerichtliche Auseinandersetzung hat bisher etwa zwei Jahre gedauert, das Urteil haben wir an alle Landesverbände des DFB geschickt. Die Vereine sollten in ihren Satzungen auf jede Formulierung achten, weil sie über die Satzung Handlungsmöglichkeiten haben. Ich weiß, dass gerade viele ehrenamtliche Vertreter stark ausgelastet sind, trotzdem wünsche ich mir, dass rassistische Vorfälle sorgfältig an uns gemeldet werden.
Warum haben Sie sich zum Thema Rechtsextremismus mit öffentlicher Positionierung lange zurückgehalten?
Das würde ich anders formulieren. Die Grundhaltung des DFB, unser klares Nein zu Diskriminierung und unser Engagement für Toleranz und Respekt sind ja bekannt. Ich wäge genau ab, bevor ich mit einem Statement an die Öffentlichkeit gehe, ich möchte erst ausreichend informiert sein und nicht sofort auf jedes Pferd springen. Wir haben im Hintergrund Wissenschaftler und Experten, die uns beraten. Das muss nicht alles nach außen getragen werden. Seien Sie sicher: der DFB wird auch künftig nicht unpolitisch sein.
Welche Haltung wünschen Sie sich von Ihren Nationalspielern?
Wir wünschen uns mündige Spieler, die eine eigene Meinung zu gesellschaftlichen Fragen entwickeln, dabei unterstützen wir sie. Vor jeder Auswärtsreise treten wir in Kontakt zu den deutschen Botschaften oder Goethe-Instituten vor Ort. Wir stellen für unsere Spiele Dossiers zusammen, die nicht nur die Einwohnerzahl der Hauptstädte enthalten. Manche Spieler gehen dieses Material intensiv durch, andere weniger. Es ist unsere Aufgabe, über die vier Eckfahnen des Spielfeldes hinaus zu denken.
Wie sieht es im Nachwuchs aus?
Es ist zur Tradition geworden, dass unsere U-17-Mannschaften im Dezember nach Israel fliegen. Spieler in dem Alter wollen cool wirken. Während der Reise besuchen sie auch die Gedenkstätte Yad Vashem. Und plötzlich sind sie nicht mehr so cool, sondern tief bewegt. Ihre Gesichtsausdrücke werde ich nicht vergessen, die persönliche Teilnahme ermöglicht ihnen Eindrücke, die durch Bücher und Filme schwer zu vermitteln sind. Es ist viel erreicht, wenn sie diese Eindrücke in den Verein, die Familie und den Freundeskreis weitertragen.
Kevin-Prince Boateng hat als Spieler des AC Mailand vor kurzem den Platz verlassen, weil er rassistisch beleidigt wurde. Wünschen Sie sich mehr Proteste dieser Art?
Ich ziehe den Hut vor Menschen, die Zivilcourage zeigen und Zeichen gegen jede Form von Rassismus setzen. In diesem Fall war es ein Freundschaftsspiel, ich frage mich, wie die öffentliche Diskussion bei einem Spiel in der Champions League oder bei einer WM gelaufen wäre, denn laut Reglement darf nur ein Schiedsrichter ein Spiel abbrechen. Boateng hat mit seiner Aktion etwas sehr Wichtiges erreicht: Es wird über das Problem diskutiert, sensibilisiert. Wir sollten die Fan-Gruppen und Initiativen weiter stärken, die gegen jede Form von Diskriminierung eintreten. Sie schaffen ein Klima, in dem sich Rechtsextreme nicht mehr wohlfühlen.
Eine der häufigsten Diskriminierungsformen ist Homophobie.
Unsere Experten arbeiten nicht erst seit gestern an einem Leitfaden für ein mögliches Coming-out von schwulen Spielern. Sollte jemand an die Öffentlichkeit gehen, werden wir ihn unterstützen und begleiten. Allerdings sehe ich momentan noch keinen konkreten Fall.
Im optimalen Fall werden antirassistische Fan-Gruppen von den etwa fünfzig sozialpädagogischen Fanprojekten betreut, doch die Einrichtungen sind chronisch unterfinanziert.
Das liegt nicht an uns, wir werden unsere Förderung noch einmal erhöhen. Aber die Fanprojekte basieren auf der sinnvollen Drittelfinanzierung, neben DFB und DFL steuern auch die jeweilige Kommune und das Land ein Drittel bei. Leider scheitert eine Finanzierung manchmal an den klammen Kassen der Kommunen.
Der Fernsehfilm "Unsere Mütter, unsere Väter" hat die Geschichtsaufarbeitung wieder ins Bewusstsein gebracht, welche Hilfe kann der DFB künftig leisten?
Wir vergeben Jahr für Jahr den Julius-Hirsch-Preis für besonderes Engagement gegen Diskriminierung. Wir verleihen diese Ehrung im Andenken an Julius Hirsch, der von den Nazis ermordet wurde. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Fußball, doch lange habe ich nicht gewusst, dass Julius Hirsch und Gottfried Fuchs die einzigen jüdischen Nationalspieler in der 113-jährigen Geschichte des DFB waren. Ihre Nachfahren haben wir zur letzten Verleihung des Hirsch-Preises nach Berlin eingeladen. Es war eine berührende Begegnung, die mir wieder vor Augen geführt hat: Das Gedenken muss immer auch ein fester Bestandteil unserer Zukunft sein.
Das Interview führte Ronny Blaschke.