Im Jahr 2015 sind laut dem EASY-System rund eine Millionen Geflüchtete nach Deutschland gekommen [1] und auch in diesem Jahr wurden zwischen Januar und Juli rund 480.000 Asylanträge in der Bundesrepublik gestellt (vgl. bamf). Nach der Antragsstellung kommen lange Wartezeiten auf die Geflüchteten zu, in denen sie Integrations- und Sprachkurse besuchen. Ist diese Hürde genommen, erhalten sie die Chance, sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch wie sieht die Situation für Geflüchtete in den Betrieben konkret aus? Kann überhaupt von einer Chance gesprochen werden? George, Physiotherapeut aus Syrien, berichtet.
George [2] (28) kommt aus Syrien und lebt seit einem Jahr in einer ostdeutschen Großstadt gemeinsam mit seinem Bruder. Nach langer Wartezeit ist er in einer Zeitarbeitsfirma untergekommen. George ist ausgebildeter Physiotherapeut und arbeitete 3 Jahre in einem syrischen Krankenhaus als Krankenpfleger. Er leidet an einer seltenen Augenerkrankung, durch welche er nur eingeschränkt sehen kann. All diese Informationen liegen der Zeitarbeitsfirma vor. Er wurde in ein Altenheim vermittelt, wo er als Altenpfleger arbeiten soll. Schon nach drei Tagen kontaktiert ihn die Zeitarbeitsfirma. Ihm wird mitgeteilt, dass er in diesem Altenheim nicht mehr erwünscht sei, da er nicht bereit wäre, Frauen zu waschen, und er sie auch nicht ansehe. „Das war totaler Blödsinn! Ich bin nicht mal Moslem. In Syrien habe ich auch ganz normal mit Frauen zusammen gearbeitet. Es war komplett gelogen.“ Niemand in dieser Arbeitsstelle fragte ihn danach. Allgemein waren die Kolleg*innen sehr abweisend. „Wenn ich mich zum Rauchen zu den Kollegen stellte und ‚Hallo‘ sagte, kam keine Antwort.“
Es folgten zwei weitere Altenheime, wo George jeweils nur einen Tag Dienst hatte. Die Zeitarbeitsfirma teilte ihm mit, dass diese Altenheime ihn nicht bräuchten. „Sie haben mir nicht mal die Chance gegeben, alles kennenzulernen. Niemand arbeitet am ersten Tag perfekt. Man muss sich doch erst zurecht finden. Zum Beispiel, welcher Bewohner selbstständig essen kann und welcher nicht. Das lernt man nicht an einem Tag.“
Er wurde in ein viertes Altenheim übermittelt. Die Kolleg*innen waren wiederholt abweisend und zeigten kein Interesse an dem jungen Mann. Für George entstand der Eindruck, dass dieser Umgang unter Kolleg*innen in Deutschland normal sei. Doch nicht nur die Mitarbeiter*innen machten ihm Probleme, sondern auch einige Bewohner begegneten ihm mit Ablehnung. „Wenn die Bewohner Besuch von ihren Familienangehörigen hatten, fing ich an, mich zu verstecken. Ich hatte Angst, dass sie sich bei der Leitung beschweren, dass hier ein ausländischer Altenpfleger arbeitet.“
Georges Verunsicherung wuchs. Er fing an, sehr viel zu arbeiten und seine Pausen nicht mehr zu nehmen. „Ich befürchtete, wenn sie mich sitzen sehen, denken sie, ich sei faul.“ An einem Tag hatte er vergessen, den Müll rauszubringen. Dann kam erneut ein Anruf von der Zeitarbeitsfirma. Zum Altenheim kehrte er nicht mehr zurück. Der Zeitarbeitsfirma lag eine Liste mit mehreren Beschwerden vor, zum Beispiel, dass er öfter zu spät kam. „Um 13:15Uhr war mein Deutschkurs zu Ende und um 14:30 Uhr fing mein Dienst an. Ich bin immer direkt von der Schule zum Heim gefahren, da es zu wenig Zeit war, um nach Hause zu fahren. Ich saß meistens 20 bis 30 Minuten vor Dienstbeginn vor dem Heim und hab gewartet. Ich war nicht ein einziges Mal zu spät. Alles auf der Liste war gelogen, sie wollten mich einfach nur loswerden.“ Ein anderer Kollege mit Migrationshintergrund berichtete ihm das Gleiche. „Er sagte mir, dass alle hier Rassisten seien. Die Manager, die Kollegen und auch die Bewohner. Nur wenn du perfekt deutsch kannst und sehr viel arbeitest, hast du eventuell eine Chance oder du gehst nach Westdeutschland.“ Für George kommt es nicht in Frage, die Stadt zu wechseln. Die Nähe zu seinem Bruder und seinen neuen Freunden ist ihm wichtig.
Die Zeitarbeitsfirma teilte ihm mit, dass kein weiteres Altenheim ihn einstellen möchte. Daraufhin wurde er in ein Post- und Paketunternehmen gesendet. „Das ist der Horror. Wieder redet niemand mit mir und die Kolleg*innen lästern vor meinen Augen über Ausländer. Es interessiert sie überhaupt nicht.“ Aufgrund seiner Sehbehinderung kommt er schlecht zu Recht und erleidet eine Kopfverletzung. „Ich warte seit einem Jahr auf meinen Behindertenausweis. Ich hoffe, danach kann ich dort aufhören und weiter als Pfleger arbeiten.“
Der MIPEX (The Migrant Integration Policy Index) analysiert die Integrations- und Migrationspolitik von 38 Ländern in Europa, Nordamerika, Südkorea, Japan, Australien und Neuseeland. Es gibt acht Kategorien und in der Kategorie Antidiskriminierung und Gleichstellungspolitik belegt Deutschland den 22. Platz, was unter dem Durchschnitt liegt. Seit August 2006 gibt es das Allgemeine Gleichberechtigungsgesetz (AGG) in der Bundesrepublik und es wurden Beratungsstellen, wie zum Beispiel die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), eingerichtet.
Jedoch sind die Umsetzung und das politische Engagement unzureichend gegeben (vgl. Mipex). Eine Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt ist obligatorisch für eine gute Integration von Zugewanderten. Hier muss es klare Signale geben. Der Berliner Fachanwalt für Arbeitsrecht, Ulf Weigelt, rät in einem ZEIT-Interview: „Hellhörig sollten Arbeitgeber sein, wenn Mitarbeiter absichtlich Informationen oder ähnliches gegenüber ihren ausländischen Kollegen zurückhalten oder ihnen bewusst falsche Informationen übermitteln. Geht es sogar so weit, dass ausländische Mitarbeiter bedroht oder erniedrigt werden, sollten Arbeitgeber mit aller Härte durchgreifen (vgl. ZEIT). Er rät zu mehr Präventionsarbeit in den Betrieben, beispielsweise in Seminaren, in welchen Fachkräften mit Migrationshintergrund das deutsche Arbeitsrecht näher gebracht wird. Auch der konkrete Umgang mit Diskriminierung soll stärker thematisiert werden. Es sollten Ansprechpartner vor Ort sein und das nicht nur in Bezug auf rassistischer Diskriminierung.
Das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen führte 2010 eine Studie unter türkischstämmigen Migrant*innen durch. Gefragt wurde, ob sie wüssten, was sie im Falle einer Diskriminierung tun können: 62% gaben an, nicht zu wissen, oder sich nicht sicher zu sein, dass es Antidiskriminierungsgesetze gibt . 75% der befragten türkischstämmigen Zugewanderten konnten auch keine Organisation oder Stelle benennen, die für Diskriminierungsopfer zuständig sein könnte.[3] Auch George wusste nicht, dass er sich an Beratungsstellen wenden und sich gegen die Diskriminierung wehren kann. Die deutsche Politik muss sich in Zukunft mehr in diesem Bereich engagieren. So kann der öffentliche Dienst als größter Arbeitgeber eine Vorbildfunktion einnehmen und für mehr Diversität sorgen. Die Strukturen in Großstädten wie Berlin und München sind progressiver, da sie in ihren Werbekampagnen gezielt für Vielfalt werben und vor allem Menschen mit Migrationshintergrund ansprechen. Medien sollten konstruktiver genutzt werden und auf eine ausgeglichene Berichterstattung achten. Momentan bedienen sich die Massenmedien an den stereotypischen Bildern von Migranten. So wird der Islam häufig in Zusammenhang mit Terrorangriffen genannt, was sich in den Gedächtnissen der Rezipienten als negatives Vorurteil verfestigt und zu Diskriminierungen führen kann. Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, somit sollte die Politik mehr in Antidiskriminierungskampagnen investieren und über Zweck und Notwendigkeit aufklären.
Ein erster Schritt zur Chancengleichheit ist das anonymisierte Bewerbungsverfahren. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) müssen Menschen mit Migrationshintergrund bei gleicher Qualifikation deutlich mehr Bewerbungen schreiben, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Des Weiteren bekommen Migrant*innen oft Jobs angeboten, für die sie deutlich überqualifiziert sind oder die von Deutschen abgelehnt werden. 2010 wurde dieses Verfahren unter Beobachtung der ADS 12 Monate lang erprobt und als erfolgsversprechend befunden. Im Mai 2014 erprobte die erste Universität das anonymisierte Bewerbungsverfahren (vgl. Antidiskriminierungsstelle). In den Bewerbungen werden weder der Name, das Alter, das Geschlecht oder die Nationalität angegeben, sondern nur die Qualifikationen. Somit wird jedem/r Bewerber*in die gleiche Jobchance eingeräumt.
Niemand muss sich hilflos einer Diskriminierung hingeben. Je mehr Menschen laut gegen diese Ungerechtigkeit werden, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt dieses Thema und ermöglicht Gegenmaßnahmen. Jede größere Stadt hat mittlerweile Beratungsstellen und als ersten Anlaufpunkt bieten sich der Bund für Antidiskriminierungs- und Bildungsarbeit in der Bundesrepublik Deutschland e. V. und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes an.
Hilfe gibt es z. B. hier:
Weitere Ratschläge im Umgang mit Diskriminierung findet sich auch unter:
[1]Vgl.: Das EASY-System ist eine IT-Anwendung zur Erstverteilung der Asylbegehrenden auf die Bundesländer. Bei den EASY-Zahlen sind Fehl- und Doppelerfassungen wegen der zu diesem Zeitpunkt noch fehlenden erkennungsdienstlichen Behandlung und der fehlenden Erfassung der persönlichen Daten nicht ausgeschlossen. vgl.: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/01/asylantraege-dezember-2015.html
[2] Name wurde von der Autorin geändert.
[3] Vgl.: Uslucan, Haci-Halil & Yalcin, Cem Serkan: Wechselwirkung zwischen Diskriminierung und Integration – Analyse bestehender Forschungsstände. Expertise des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Essen 2012. S. 23.