Jedes Jahr im September wiederholt sich in Berlin ein groteskes Schauspiel: Mehrere tausend Menschen ziehen schweigend in einem langen Prozessionszug durch den Stadtteil Mitte. Die Männer und Frauen, von denen sich viele als strenggläubige Christen verstehen, tragen weiße Holzkreuze in den Händen. Manche der sich selbst „Lebensschützer_innen“ Nennenden bewegt die Lippen zum stillen Gebet. Von allen Seiten dringt höllischer Lärm auf die Frommen ein. Hinter den Absperrungen der Polizei brüllen sich Hunderte von Gegendemonstranten die Stimmen heiser. Beleidigungen und Parolen wie „Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben!“ schallen herüber. Der umstrittene „Marsch für das Leben“ ist die wichtigste Veranstaltung der Anti-Abtreibungsbewegung in Deutschland. Die Demo findet dieses Jahr am 16.9. statt und wird erneut massive Proteste von linken und queer-feministischen Gruppen provozieren. Mit solchen polarisierenden Aktionen versucht die religiöse Rechte, ihre Themen und Weltanschauungen ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken. Unterstützung erhält sie aus der neurechten Szene und von der AfD.
Von Christoph Kluge
Was ist der „Marsch für das Leben“?
Die selbsterklärten „Lebensschützer“ verstehen ihren Schweigemarsch als Trauerzug für die im Laufe des Jahres durch Abtreibungen „ermordeten“ Kinder. Die bizarre Veranstaltung fand erstmals 2002 in Berlin statt, seit 2008 wird sie jährlich durchgeführt. Vorbild ist die US-amerikanische Massendemonstration „March for Life“, zu der jedes Jahr im Januar mehrere hunderttausend Menschen, vor allem ultrakonservative Christen, nach Washington D.C. reisen. In Deutschland fällt die Beteiligung deutlich geringer aus. 2016 nahmen laut Polizeiangaben 6.000 Personen am Marsch teil. Die Veranstalter meldeten 7.500. Bei den frühen „Märschen“ stiegen die Teilnehmerzahlen von Jahr zu Jahr noch deutlich an, sagen Ulli Jentsch und Eike Sanders vom antifaschistischen Pressearchiv apabiz, die die Entwicklung seit 2008 beobachten. Inzwischen erhält der „Marsch“ nur noch wenig Zuwachs. Es kommen immer dieselben Leute.
Die breite Öffentlichkeit nimmt davon zwar wenig Notiz, doch innerhalb der Kirchen ist die Demonstration äußerst umstritten. Die Deutsche Bischofkonferenz der katholischen Kirche unterstützt sie offiziell, der Vorsitzende Kardinal Reinhard Marx setzt sich sogar persönlich dafür ein. Auch der Berliner Erzbischof Heiner Koch gehört zu den eifrigsten Befürwortern, im vergangenen Jahr trat er sogar selbst als Redner auf. Doch der Berliner Diözesanrat, das wichtigste katholische Laiengremium der Erzdiözese, ging 2017 erstmals auf Distanz zum „Marsch“. Dafür wurde der Diözesanrat wiederum von ultrakatholischen Medien wie der Zeitung „Tagespost“ oder der Website kath.net mit beißender Kritik angefeindet.
Die evangelische Kirche steht insgesamt eher auf der Seite der Kritiker der Veranstaltung. Die Landeskirche von Berlin und Brandenburg hat sich bereits 2014 wegen „inhaltlicher Differenzen“ abgewandt, auch auf Bundesebene gibt es keine Unterstützung. Nur Hans-Jürgen Abromeit, der evangelische Bischof von Mecklenburg-Vorpommern, stärkt dem Marsch demonstrativ den Rücken und sendet auch in diesem Jahr ein Grußwort. Ausnahmslos hinter der „Lebensschutzbewegung“ steht hingegen die Deutsche Evangelische Allianz (DEA), das größte Netzwerk evangelikaler Freikirchen. Der DEA-Generalsekretär Hartmut Steeb gehört selbst zu den einflussreichsten Abtreibungsgegner_innen Deutschlands.
Zwischen Leben und Tod
Der „Marsch“ wird vom „Bundesverband Lebensrecht e.V. (BVL)“ organisiert. Der Dachverband hat im April eine neue Vorsitzende gewählt: Alexandra Linder, eine langjährige Szene-Veteranin und Autorin. In ihrem Buch „Geschäft Abtreibung“ behauptet Linder, eine nebulöse „Lobby für Kindstötung“ würde Frauen aus bloßer Profitgier zu Abtreibungen drängen. Die Pharmaindustrie, Krankenkassen und skrupellose Ärzte machen ein „Milliardengeschäft“ mit „Kinderleichen“. Die Eingriffe finden Linders Ansicht nach vor allem aus einem Grund statt: Abtreibungskliniken wollen die Föten für medizinische Experimente an Labors verkaufen. Soweit die einigermaßen schräge Verschwörungstheorie.
Das zentrale Anliegen der „Lebensschutzbewegung“ seit den 1970er Jahren ist die Forderung nach einem vollständigen Verbot aller Schwangerschaftsabbrüche. Doch das Themenspektrum ist breiter geworden. Inzwischen beklagen die Lebensschützer auch zum Beispiel medizinische Frühuntersuchungen von Föten, mit denen Behinderungen erkannt werden können. So unterschiedliche Dinge wie Verhütungsmittel und Sterbehilfe sind für die Fundamentalisten zwei Aspekte desselben Problems. Denn sie stehen für eine „Kultur des Todes“, die unsere Gesellschaft im Griff hält. In diesem Jahr veranstaltet der BVL am Vortag der Demonstration eine sogenannte Fachtagung mit dem Titel „Bioethik und Menschenwürde“ an der Katholischen Akademie. Der Aufruf zur Tagung kritisiert moderne Verfahren der künstlichen Befruchtung wie das „Drei-Eltern-Baby“. Wenn die Wissenschaft nicht gestoppt wird, so der Tenor, gäbe es schon bald gar keine Grenzen mehr: „Experimente mit embryonalen Mensch-Tier-Mischwesen werden bereits durchgeführt.“
Das Abendland wird im Ehebett verteidigt
Der „Marsch für das Leben“ gibt sich betont überparteilich, doch die AfD-Politikerin Beatrix von Storch unterstützt die Bewegung aktiv. Die rechte Partei spricht sich in ihrem aktuellen Wahlprogramm ausdrücklich für den „Schutz des ungeborenen Lebens“ aus. Allerdings geht die AfD noch einen Schritt weiter und stellt einen Zusammenhang zur Migrationspolitik her. Während „die europäische Bevölkerung überaltert und schrumpft“, heißt es im Programm, „explodiert“ das Bevölkerungswachstum im Nahen Osten und in Afrika. Das fatale Ergebnis sei eine demographische „Selbstzerstörung“. In dieser Weltsicht, die von der NPD nicht mehr allzu weit entfernt ist, wird das Fortpflanzungsverhalten von Menschen kurzerhand zur wichtigsten Fluchtursache erklärt - nicht etwa Globalisierung oder Krieg.
Die Lösung der AfD: rigorose Schließung der Staatsgrenzen, Abschiebung von Flüchtlingen und gleichzeitig eine „aktivierende Familienpolitik“ für die „angestammte“ Bevölkerung. Die AfD fordert, dass die Themen Lebensschutz, Kindererziehung und Haushaltsführung an Schulen unterrichtet werden, ebenso wie „anerkannte Regeln zu Partnerschaft und Familie“ – also konservative Werte. Junge Ehepaare sollen günstige Darlehen erhalten, die ihnen teilweise erlassen werden können, wenn sie Kinder bekommen. (Ähnliche Programme gab es sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR, das Tilgungsverfahren wurde umgangssprachlich „Abkindern“ genannt.)
Die AfD inszeniert sich zunehmend als „christliche“ Partei, nicht zuletzt, weil sie auf diese Weise enttäuschte CDU-Wähler_innen gewinnen will. Damit ist sie in einigen Regionen erfolgreich, schreibt der Historiker Michael Lühmann in einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung, etwa im Erzgebirge oder im Stuttgarter Raum. Doch während die meisten Anhänger der religiösen Rechten die Familienpolitik und die Pro-Life-Haltung der AfD begrüßen, ist ihr Rassismus durchaus umstritten. Zwar treten viele Evangelikale und Ultrakatholiken selbst offen rassistisch und islamfeindlich auf. Andere jedoch pochen auf das Gebot der Nächstenliebe und engagieren sich in der Flüchtlingshilfe. Nicht selten verbinden sie damit den Versuch, muslimische Einwanderer zum christlichen Glauben zu bekehren. Oder sie nehmen vorrangig die Anhänger_innen christlicher Minderheiten auf, zum Beispiel aus Syrien oder dem Irak. Vor allem kleine Gemeinden sind bestrebt, auf die Weise ihre Mitgliederzahlen zu erhöhen, handeln also nicht immer ganz uneigennützig. Doch letztlich hat auch das zur Folge, dass die Strategie der AfD nur zum Teil aufgeht.
Politisch bedeutsam sind nicht zuletzt außerparlamentarische Gruppierungen wie die „Demo für Alle“-Bewegung um Hedwig von Beverfoerde. Die behandelt das Thema Abtreibung eher am Rande. Die ultrakatholische Aktivistin organisiert Protestaktionen und Unterschriftensammlungen gegen die Gleichstellung homosexueller Paare und die Liberalisierung des Sexualkundeunterrichts in Schulen. Beverfoerde behauptet, eine „übermächtige Homo-Lobby“ würde Kinder gezielt zur Homosexualität umerziehen wollen. Die wissenschaftliche Genderforschung hält sie für einen großangelegten Versuch globaler Eliten, die traditionelle Kleinfamilie mit Vater, Mutter und Kindern zu zerstören. Solche Ansichten werden seit einigen Jahren auch von der neurechten Zeitung „Junge Freiheit“ kolportiert. Am heutigen Freitag wird Beverfoerde eine eigene Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt durchführen. Die Veranstaltung ist der Höhepunkt und Abschluss einer Bus-Tour gegen die Ehe für Alle. Wahrscheinlich wird Beverfoerde danach auch, wie in den vergangenen Jahren, beim „Marsch“ mitlaufen. Beide Bewegungen sprechen dieselbe Klientel an.
Das letzte Aufgebot Gottes
Im Gegensatz zu stärker religiös geprägten Ländern wie Polen oder Italien gibt es in Deutschland keine erhitzte Debatte um das Thema Abtreibung. Auch die Finanzierung von Gender Studies oder die Einführung der Ehe für Alle sind keine Streitthemen. Das zeigt sich deutlich daran, dass nichts davon im aktuellen Bundestagswahlkampf eine Rolle spielt – außer für die AfD. Die religiöse Rechte möchte diese randständigen Themen auf die Tagesordnung setzen und nutzt dazu das Mittel der Provokation. Die Gegenproteste gelten der Szene sogar als Bestätigung ihrer von Verschwörungsglauben geprägten Weltsicht: Die Gesellschaft hat ihre Werte verloren, vor allem junge Menschen in den Städten sind hedonistisch und eigennützig. Deshalb geben sie sich verantwortungslos sexuellen Ausschweifungen hin, anstatt Kinder in die Welt zu setzen. Hinter der um sich greifenden Dekadenz steckten die Interessen von globalen Eliten und Großkonzernen, die den Verfall gezielt vorantrieben. Auf der anderen Seite stehend sehen die Lebens- und Familienschützer sich selbst als heroische Retter_innen von Christentum und Tradition, die für ihre Aufrichtigkeit attackiert würden. Die Proteste dieser radikalen Minderheit von Fundamentalist_innen richten sich zwar gegen konkrete Gesetze oder medizinische Verfahren, doch das Feindbild dahinter ist der gesellschaftliche Wandel insgesamt und letztlich jede Form der Liberalisierung.
Christoph M. Kluge ist Historiker, Literaturwissenschaftler sowie freier Journalist in Berlin und beobachtet die neurechte Szene.
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