Rechtsextremismus ist ein politisches Problem. Für Familien oder Freunde von Neonazis ist es aber oft genauso ein psychosoziales. Diese Erfahrung machte im ersten Jahr ihres Bestehens die "Onlineberatung gegen Rechtsextremismus", die per Email oder im Chat hilft. Oft fällt es Betroffenen ohne sichtbares Gegenüber sogar leichter, sich unangenehme Sorgen von der Seele zu schreiben.
Interview: Simone Rafael
Die Onlineberatung gegen Rechtsextremismus beim Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ gibt es seit einem Jahr. Sie hat einen psychosozialen Ansatz und berät Ratsuchende per Email oder Einzelchat. Dazu bietet sie Gruppenchats als virtuelle Selbsthilfegruppen oder mit Experten / Expertinnen an.
Birgit Luig und Martin Ziegenhagen sind zwei Berater des Projektes. Luig ist Sozialpädagogin, Ethnologin und Mediatorin mit viel Beratungserfahrung, Ziegenhagen Diplompädagoge und langjähriger Rechtsextremismus-Experte.
Wer wendet sich an die Onlineberatung gegen Rechtsextremismus?
Martin Ziegenhagen:
Alle Lebensbereiche, die auf der Internetseite dargestellt werden - Familie, Freizeit und Sport, Gemeinwesen, Beruf, Schule - spiegeln sich auch in den Anfragen wider. Ein Schwerpunkt liegt aber im erweiterten Familienbereich, also im Bereich Familie und Freunde.
Birgit Luig:
Die Anfragen drehen sich meist um das Thema: Mein Sohn, meine Freundin, mein Cousin hat Kontakt mit der rechtsextremen Szene - was kann ich tun. Die Leute, die sich an die Onlineberatung wenden, sind Angehörige von Rechtsextremen - fast nie rechtsextreme Jugendliche selbst. Neben Eltern mit rechtsextremen Kindern melden sich auch Kinder mit rechtsextremen Eltern. Die meisten Ratsuchenden sind Frauen - was dem Gesellschaftsbild entspricht, dass sich vor allem Frauen um die Familienarbeit kümmern.
Gibt es auch politische Anfragen, wie bei etwa bei Mobilen Beratungsteams vor Ort? Was kann ich gegen NPD-Flyer tun, wie verhindere ich ein Rechtsrockkonzert oder ähnliches?
Birgit Luig:
Anfangs dachten wir auch, dass solche Fragen kommen könnten. Aber wir kriegen fast ausschließlich Anfragen von Menschen, die in Bedrängnis geraten oder durch die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus emotional belastet sind.
Was passiert, wenn eine Anfrage eingeht?
Martin Ziegenhagen:
Die Website ist vergleichbar mit einer wirklichen Beratungsstelle, nur im Internet. Praktisch sind nur die Türen anders, nämlich virtuell.
Birgit Luig:
Wer sich im gesicherten Bereich anmeldet, kann uns entweder per Email fragen oder einen Einzelchat buchen. Außerdem bieten wir auch Gruppenchats an. Wir haben etwa einen regelmäßigen Chat für betroffene Eltern, die sich austauschen wollen. Wer uns eine Email schreibt, legt diese in einen virtuellen "Postkasten". Von dort holen wir die Anfrage ab, beantworten sie innerhalb von drei Tagen und legen auch die Antwort dort wieder ab. Die Beratungen vollziehen sich also unter größtmöglicher Anonymität.
Wie wird denn die Onlineberatung genutzt?
Birgit Luig:
Die meisten wenden sich per Email an uns. Oft sind es Einzelanfragen, bei denen offenbar der Prozess des Schreibens schon so viel Klärung bewirkt, dass die Userinnen und User nach einer Frage und Antwort zufrieden sind. Mit anderen entwickeln sich längerfristige Beratungsprozesse, die über Wochen oder auch Monate gehen. Wir bieten den Menschen, die sich an uns wenden, die Möglichkeit, „ins Gespräch“ zu kommen und geben die Option, dass sie mehr von ihren Sorgen loswerden können.
Martin Ziegenhagen:
Es geht oft auch darum, zu bestätigen: Es ist in Ordnung, dass Sie sich Sorgen um Ihr Kind machen, weil es diese neuen Freunde hat. Ihre Beobachtungen sind nicht banal. Sie müssen nicht stark sein. Sie müssen sich auch nicht schämen.
Birgit Luig:
Viele Eltern fühlen sich hilflos und empfinden den Rechtsextremismus ihrer Kinder als persönliche Schwäche, die sie nicht verhindern konnten. Es geht darum, sie zu stärken und sie zu ermutigen, sich weiter Hilfe zu suchen. Wahrnehmen und Hilfe suchen sind keine Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke!
Martin Ziegenhagen:
Wichtig ist auch, zu vermitteln: Sie sind nicht allein. Hier können Sie sich das Problem von der Seele reden, Entlastung finden, um dann Handeln zu können.
Was kann Onlineberatung gegen Rechtsextremismus dann bewirken?
Birgit Luig:
Wir entwickeln gemeinsam mit den Ratsuchenden - für jeden Fall individuell - Wege, wie es weiter gehen kann. Natürlich können wir nicht die Kinder aus der Szene holen, und oft gibt es leider keine Veränderungen von heute auf morgen.
Martin Ziegenhagen:
Aber wir können Menschen etwa in die Lage versetzen, sich mit Rechtsextremismus auseinanderzusetzen, um besser mit dem Kind zu Hause umgehen zu können. Wir können ihnen helfen, einen Standpunkt zum Rechtsextremismus des Kindes - oder der Freundin - zu entwickeln.
Birgit Luig:
Oft entwickelt sich daraus auch eine politische Ebene, dass etwa die Eltern denken: "Wo sind wir hier gelandet! Wir wollen den Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft nicht mehr zulassen."
Martin Ziegenhagen:
Und das ist ein fundamentaler Beitrag zur Demokratie. Dann ist vielleicht das Problem "rechtsextremer Sohn" noch nicht gelöst, aber die Eltern sind motiviert, die dahinterstehende Ideologie gesellschaftlich anzugehen. Damit ist diese Arbeit gegen Rechtsextremismus nicht nur nachhaltig und interventiv, sondern sogar präventiv.
Welche Vorteile sehen Sie, nach einem Jahr Projektlaufzeit, in der Onlineberatung?
Martin Ziegenhagen:
Die Niedrigschwelligkeit. An uns wenden sich Menschen definitiv früher als an Beratungsstellen vor Ort. Die Ratsuchenden können jederzeit und von überall ihre Anfragen an uns schicken.
Und welche Nachteile gibt es?
Birgit Luig:
Oft fehlen Rückmeldungen, wir müssen also mutmaßen, ob unsere Arbeit geholfen hat. Es fehlt auch die nonverbal-emotionale Ebene, die ein persönliches Gespräch bietet. Dieser Nachteil kann aber auch ein Vorteil sein: Gerade sensible Themen schreiben sich Menschen oft leichter von der Seele, wenn ihnen niemand gegenüber sitzt.
Wo hat die Online-Beratung Grenzen?
Martin Ziegenhagen:
Beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene. Da können wir Menschen helfen, Kontakte zu Spezialisten in der wirklichen Welt zu bekommen, aber ein derart komplexer Vorgang ist online nicht leistbar.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Birgit Luig:
Dass es mit der Arbeit weitergeht, denn gesichert ist das Projekt nur bis 2010. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass wir hier einen völlig anderen Beratungsaspekt abdecken als andere Beratungsangebote. Diesen psychosozialen Ansatz im Internet muss es unbedingt geben, es ist eine wichtige Ergänzung zur bestehenden Projektlandschaft.
Martin Ziegenhagen:
Und wir arbeiten daran, die Bekanntheit des Projektes zu vergrößern. Optimal wäre es, wenn Menschen die Seite kennen, bevor sie das Problem haben.
Die Onlineberatung gegen Rechtsextremismus existiert seit einem Jahr und wird noch bis 2010 gefördert vom Bundesprogramm "Vielfalt tut gut ". Die Beratung findet im Internet auf einer SSL-verschlüsselten, passwortgeschützen und vollständig anonymen Beratungsplattform statt. Emailanfragen werden innerhalb von drei Tagen beantwortet. Es gibt auch die Möglichkeit, nach Absprache Einzelchats wahrzunehmen oder an Gruppenchats teilzunehmen.