Was kann ich tun, wenn mein Sohn/meine Tochter in eine rechtsextreme Gruppe bzw. Partei hineingeraten ist?
Das Team der Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt (ARUG) in Braunschweig berät unter anderem Eltern und Angehörige von jungen Frauen und Männern, die in der Naziszene aktiv sind.
Reinhard Koch (ARUG): Für die meisten Angehörigen, die eine Beratung aufsuchen, steht zunächst im Vordergrund, sich Klarheit in der Frage zu verschaffen, inwieweit die eigene Wahrnehmung und Vermutung richtig ist: Ist mein Kind rechtsextrem? In welcher Szene bewegt sich mein Kind? Welche Musik hört er? Woran erkenne ich, ob er schon richtig in der rechtsextremen Szene dabei ist? Was kommt da noch alles auf uns zu?
Die Verunsicherung der betroffenen Eltern ist zudem häufig durch einen objektiven Anlass zur Sicherheit geworden. Konkret kann das heißen: einschlägige Straftaten sind aufgelaufen, die Ermittlungsbehörden oder der Staatsschutz haben geklingelt, öffentliches Auftreten z.B. bei Demonstrationen sind normal, das Kind hat sich verändert. Der Leidensdruck wächst. Erste Reaktionen - zumeist Verbote oder quälende Diskussionen - waren wirkungslos.
Beratungsstellen können unterstützen
Der Schritt in eine Beratungsstelle bleibt eine hohe Hürde, setzt man sich doch als Eltern ständig mit der Frage auseinander: Haben wir mit unserer Erziehung versagt? Werden wir selbst auf die Anklagebank gesetzt?
Dennoch: Gehen Sie den Schritt in professionelle Beratung. Der Erstkontakt zu einer Beratungsstelle wird dann für Sie leichter, wenn diese in der Lage ist, fachlich fundierte Informationen zum Themenfeld „Rechtsextremismus“ zu erteilen, um der eigenen Verunsicherung wieder Erdung zu geben.
Verschaffen Sie sich Informationen über die rechtsextreme Szene:
Nehmen Sie das eigene Bedürfnis nach Informationen zu bisher unbekannten rechtsextremen Szenen, Codes, Organisierungsformen, Mechanismen des Eintritts etc. ernst und versuchen Sie, sich die entsprechenden Informationen zu besorgen.
Spezifische Beratungsstellen oder –netzwerke können eine Einschätzung geben zu Qualität und Bedeutung der lokalen oder regionalen rechtsextremen Szene, deren Akteure, den Charakter und die Bedeutung der Clique im rechtsextremen Spektrum, in die das Kind eingetaucht ist.
Letztlich geht es darum, die Rolle der Szene für das eigene Kind, dessen Bedeutung in der Szene und in der Wahrnehmung durch externe Fachleute einordnen zu können.
Den Blickwinkel verändern
Verändern Sie den Blickwinkel - im Sinne der Fragen: „Was findet ihr Kind dort, was es woanders nicht bekommt?“ oder „Warum macht es für ihn/sie subjektiv Sinn, dort dabei zu sein?“. Zusammen mit den Eltern versuchen die Beratungsstellen einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Die Folge ist dabei bestenfalls, den eigenen Blickwinkel wieder zu erweitern und somit auch mögliche neue Deutungs- und Handlungsmuster zu eröffnen.
Weiter Ansprechpartner bleiben
Ansprechpartner zu bleiben und konstruktive Kommunikationsformen zu entwickeln ist oft einfacher gesagt, als getan. Mit Hilfe einer „Draufsicht“ von außen lassen sich bisher zunehmend destruktiv verlaufene Auseinandersetzungen mit dem Kind besser analysieren und gemeinsam Wege einer gelingenderen Kommunikation entwickeln.
Bauen Sie(persönliche) Netzwerke auf
Zielsetzung eines nächsten Schrittes ist es, persönliche Netzwerke aufzubauen und Unterstützung in anderen Bereichen der (Zivil-) Gesellschaft zu suchen und zu mobilisieren. Ihr Kind ist niemals nur Sohn oder Tochter, es ist zugleich Schüler, Auszubildender, Freund/Freundin, Vereinsmitglied, Feuerwehrmann, Sportler, Klient bei Jugendamt, Polizei, Jugendgerichtshilfe und vielleicht vieles mehr.
Angesichts der Erwartung in der rechtsextremen Szene, möglichst viele Außenkontakte nach dem Einstieg aufzugeben und der damit einhergehenden Selbstwahrnehmung, fast nur von Feinden umgeben zu sein, ist es wichtig, zu solchen Personen Kontakt zu halten, die ein „Zugang“ zu Ihrem Kind darstellen oder sein können. Zentrale Fragen in diesem Prozess sind: Wie ist deren Wahrnehmung? Findet dort noch Kommunikation statt? Für viele Eltern ist dies zudem eine konkrete Unterstützung in der Bewältigung der Angst, mit dem Problem allein zu sein.
Sich gemeinsam mit Beratungsstellen vor Ort einmischen
Existiert in einem Gemeinwesen bereits eine relativ verfestigte rechtsextreme Cliquen- oder Kameradschaftsstruktur, ist dies längst zum Problem eines Dorfes, Gemeinwesens, einer Gemeinde geworden. Insbesondere, wenn diese möglicherweise schon jugendkulturelle Monokultur darstellt und eine Zugwirkung ausübt, die keine Alternativen mehr bietet. Hier gilt: dies ist nicht mehr das Problem einzelner betroffener Eltern.
Hier sollte eine Aktivierung der Zivilgesellschaft erfolgen und Beratung im Verbund mit den - vielleicht mehreren - betroffenen Eltern auch das Gespräch mit den Repräsentanten und Entscheidungsträgern des Gemeinwesens gesucht werden. Diese Gespräche können entweder nicht-öffentlich, oder aber auch öffentlich geführt werden. Nicht ohne Grund sind in verschiedenen Bundesländern aus Beratungseinrichtungen hierfür explizit Angebote der „Mobilen Beratung“ oder des „Community Coaching“ entwickelt worden.
Moderierte Selbsthilfe organisieren
Oft wünschen sich Eltern dann Selbsthilfegruppen. Die Motivation hierfür ist ganz unterschiedlich. Das kann getragen sein von dem Bedürfnis, den eigenen – nun eventuell nach außen wirkenden - Aufarbeitungsprozess mit anderen Betroffenen zu teilen, möglicherweise selbst sogar eine Ressource für Andere zu sein und deren Prozess positiv zu begleiten oder mindestens andere Eltern zu ermutigen, den Schritt aus den eigenen vier Wänden zu wagen.
Hier stellt sich für Eltern und Beratungsstellen ein neues Tätigkeitsfeld: mit dem Wunsch nach Selbsthilfe sind viele Hoffnungen und Erwartungen verbunden, die implizit oft mit dem Ersatz von Beratung zu tun haben. "Es scheint allerdings sehr zweifelhaft, diese Aufgabe in Elternselbsthilfegruppen zu verorten, da dort typischerweise mitgebrachte Problemszenarien und –hintergründe eher kumulieren und dann gegenseitig bestätigt und gestärkt – als produktiv abgebaut - werden," lautet die Bilanz der Autoren in dem Buch "Rechte Jungs, rechte Mädchen – ratlose Eltern?". In diesem Sinne erscheinen eher durch externe Fachleute moderierte Elterngruppengespräche sinnvoll zu sein als klassische Selbsthilfe.
Handlungsfähig werden und beiben
Die eigene Handlungsfähigkeit wieder herzustellen, die eigenen Kräfte wieder aufzufrischen und sich zu fragen: Was tue ich in diesem Familienkrieg eigentlich für mich? Wie entkomme ich den ständigen Kämpfen, gewinne ich eigene Sicherheit, Ruhe und Kraft zurück? darf, bei aller Sorge, keinesfalls zu kurz kommen!
Wo kann ich Hilfe bekommen?
In vielen Bundesländern gibt es (mobile) Beratungsstellen und Behörden, die eine spezialisierte Elternberatung anbieten.
Mögliche Adressen und Telefonnummern, aber auch eine telefonische Erstberatung kann angeboten werden durch:
Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt (ARUG)
Bohlweg 55, 38100 Braunschweig. www.arug.de
Zum Thema
| Liste aller Neonazi-Aussteigerprogramme in Deutschland
| Wege aus der rechten Szene - Ratgeber für Eltern
Literatur
| Müller, Andrea; Peltz, Cornelius (Hg.): Rechte Jungs, rechte Mädchen – ratlose Eltern? (Bremen 2006)