Auf dem Seziertisch: Noie Werte – Die Vertriebenenballade

Volksverhetzung, gut versteckt

Würde die Vertriebenenballade im Radio gespielt – es fiele kaum jemandem auf, dass es sich um den Song einer neonazistischen Band handelt. Das Lied kommt harmlos daher, wie ein kitschiger Allerwelts-Popsong. Und auch der Text wirkt auf den ersten Blick keineswegs rechtsextremistisch: Strafbare Inhalte? Fehlanzeige. Volksverhetzung? Kaum zu erkennen.

Von Henning Flad

Doch der Song war enthalten auf der sogenannten Schulhof-CD, mit der die NPD Anhänger unter Jugendlichen zu finden versucht. Ursprünglich stammt er vom Album Am Puls der Zeit der Stuttgarter Nazi-Band Noie Werte aus dem Jahr 2000 – einer der bedeutendsten und auch langlebigsten deutschen Rechtsrock-Kapellen überhaupt. Mitglieder der bereits seit 1987 aktiven Band spielte einst eine Schlüsselrolle bei der Etablierung des neonazistischen und mittlerweile verbotenen Nazi-Musiknetzwerkes "Blood & Honour" in Deutschland.

So lautet die erste Strophe der Vertriebenenballade – aber von wem hier überhaupt die Rede ist, wird erst im Refrain klar:

Nirgendwo, auch später nicht, wird das Thema des Lieds ausdrücklich benannt: die Vertreibung der deutschen Bevölkerung im Zuge des Vormarsches der Roten Armee in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Doch dies wird nirgends ausgesprochen – ein unbefangener Hörer könnte meinen, es ginge um Vertreibungen ganz allgemein. Angesichts der Omnipräsenz des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges in den Texten und Mythen der extremen Rechten aber ist für die Zielgruppe von Noie Werte völlig klar, dass es nicht um irgendwelche Vertriebene geht, etwa in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien oder in Sudan, sondern selbstverständlich um die deutschen Vertriebenen.

Im weiteren Verlauf des Textes fällt bei genauerer Betrachtung ein typisches Element neonazistischen Denkens auf: eine strikte Dichotomie von "Gut" und "Böse", wobei die Rollen eindeutig verteilt sind.

"Das Böse" ist die Rote Armee, noch unterstrichen durch das den russischen Soldaten zugeschriebene "teuflische Lachen". Diese begehen also nicht nur Verbrechen, sie begehen sie sogar lachend. Und wo die eine Seite so abgrundtief böse ist, muss die andere Seite eindeutig gut und unschuldig sein – dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die wiederholte Betonung des Leidens von Frauen und vor allem von Kindern, die klassische Symbole der Reinheit und Unschuld sind.

Der Mechanismus der Schuldumkehr ist einfach: In der dramatischen Überbetonung des Leidens der Deutschen verschwinden die deutschen Verbrechen, verschwindet die Frage, welche Ereignisse dem Vormarsch der Roten Armee vorausgingen. Die Frage nach Ursache und Wirkung spielt hier keine Rolle. Vielmehr soll Deutschland durch Überbetonung der Verbrechen der Roten Armee von seiner Schuld reingewaschen werden. Die Zeit der militärischen Niederlage Nazi-Deutschlands war, so der Text, "die Zeit, als das Licht von der Erde verschwand". Mehr noch, "das Böse kam und wollte nehmen". Damit wird der Vormarsch der Roten Armee ausschließlich als Plünderungs- und Eroberungsfeldzug beschrieben und aus den historischen Zusammenhängen herausgelöst. Dies ist eine in neonazistischen Kreisen beliebte Projektion: Was Wehrmacht, SS und Gestapo in den besetzten Gebieten taten, wird der anderen Seite zugeschrieben.

Auf demagogisch geschickte Weise werden in dem Lied Gefühle angesprochen. So heißt es, "ein kleines Mädchen bettelt um Gnade"– um dies dann für politische Zwecke zu nutzen. Denn es geht Noie Werte keineswegs nur um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Dies wird zum Beispiel in der zweiten Strophe deutlich, wo es heißt: "Es war eine Zeit, über die man nicht spricht". Dies ist eine Unterstellung, die bei Rechtsextremisten ebenso beliebt, wie verkehrt ist: Das Schicksal der Heimatvertriebenen war seit 1945 stets ein öffentliches Thema in Deutschland, Spitzenpolitiker pilgerten zu den Treffen der Landsmannschaften, Schriftsteller wir Kempowski und Grass verarbeiteten die Schicksale literarisch.

Am Ende des Liedes heißt es, ein kleines Mädchen habe bis heute keine "Gnade" bekommen. Dies wirft beim Hörer natürlich die Frage auf, wer für das Verschweigen und das Verweigern der "Gnade" verantwortlich sei. Die Antwort darauf dürfte in den üblichen Feindbildern der Szene zu suchen sein. Der Hörer soll sich mit den Leiden von Kindern und vergewaltigten Frauen, soll sich mit der Mutter identifizieren. Er findet sich "auf die Knie gezwungen" wieder. Man soll zum Schluss kommen, die falsche Seite habe den Krieg gewonnen. In der Mutter und dem kleinen Mädchen soll sich der Hörer auch mit Nazi-Deutschland als Ganzem identifizieren.

drucken