Am Samstag marschierten deutsche und tschechische Neonazis gemeinsam ungestört durch die Straßen des nordböhmischen Ústí nad Labem. Am selben Tag eskalierte die schwehlende Gewalt gegen Roma: Bei einem Brandanschlag auf das Haus einer Roma-Familie in Vítkov wurde ein zweijähriges Kind lebensgefährlich verletzt.
Von Karl Kirschbaum, Prag
Am 18. April 2009 trat in Tschechien ein, wovor Extremismusexperten und Roma-Vertreter seit Jahren warnen. Erstmals konnten deutsche und tschechische Neonazis mit einer deutschen Reichsfahne ungestört durch die Straßen der nordböhmischen Stadt Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) ziehen - und dies zwei Tage vor dem 120. Geburtstag ihres ideologischen Vorbilds Adolf Hitler. In der Nacht desselben Tages verübten Unbekannte in dem nordmährischen Dorf Vítkov einen Brandanschlag auf ein von einer achtköpfigen Romafamilie bewohntes Haus. Ein zweijähriges Kind erlitt Verbrennungen dritten Grades und schwebt in akuter Lebensgefahr.
Am folgenden Tag sprach der abtretende Ministerpräsident der tschechischen Regierung, Mírek Topolánek, von einem Zusammenhang zwischen dem Naziaufmarsch und „direkter Gewalt gegen Einwohner“ an einem etwa 500 Kilometer entfernten Ort.
Freie Fahrt für deutsche Neonazis in Tschechien
Etwa fünfhundert größtenteils junge Neonazis, darunter etwa zweihundert aus dem deutschen Nachbarland, versammelten sich am späten Samstagnachmittag in der Innenstadt der nordböhmischen Bezirksstadt Ústí nad Labem, um angeblich der Opfer alliierter Bombenangriffe von 1945 zu gedenken.
Der zentrale Ort für Kundgebungen ist dort der Lidické náměstí, auf deutsch Lidiceplatz. Lidice war ein Dorf in Mittelböhmen, das 1942 von deutschen Nazis dem Erdboden gleichgemacht wurde. Wegen des angeblichen Verdachts, Bewohner des Dorfes hätten Attentätern des Hitleradjutanten Reinhard Heydrich Unterschlupf geboten, wurden sämtliche männliche Einwohner erschossen, die Frauen in KZs deportiert und die Kinder an „Pflegeeltern“ im Reich zur Germanisierung verschleppt.
Auf diesem Platz sprach nun Maik Müller, der als Vertreter des „Nationalen Widerstands“ aus Dresden vorgestellt wurde, von einem historischen Bündnis deutscher und tschechischer „Kampfgefährten“ und bezeichnete Tschechien als „gemeinsame Heimat“. Angeblich haben Vertreter von Nationalisten beider Länder eine „Vereinbarung“ unterzeichnet, in dem sie die Benesch-Dekrete ablehnten, die 1945 zur Ausweisung von Millionen Deutscher aus der Tschechoslowakei führten. Unterstützung dafür erhielten sie auf der Kundgebung auch von slowakischen und ungarischen Gleichgesinnten.
Keine Gewalt - neue Strategie?
Unklar ist bisher, warum es nicht erneut zu gewaltsamen Ausschreitungen kam. Möglicherweise verhinderten dies das Aufgebot von etwa 1250 teils schwer bewaffneten Polizeikräften sowie strenge Fahrzeug- und Leibeskontrollen. Die Polizei riegelte beinahe die gesamte fünf Kilometer lange Trasse des „Trauermarsches“ hermetisch ab, so dass sich nicht wie oftmals vorher bewaffnete Schlägertrupps nach Abschluss der Kundgebung dem Demonstrationszug anschließen und aus dem Zug heraus Polizisten oder auch Angehörige von Minderheiten angreifen konnten.
Möglich ist aber auch, dass die Führung der tschechischen Neonazis bewusst auf Gewalt verzichtete. Nach den gewaltsamen Demos der letzten Monate wandten sich viele mit den Neonazis sympathisierende Tschechen wegen deren offensichtlicher Gewaltbereitschaft wieder von diesen ab. Die neuerliche Isolierung der Neonazis, unterstützt auch durch eine mittlerweile einsetzende Anti-Nazi-Kampagne tschechischer Medien, veranlasste diese vermutlich zu einer Änderung ihrer Strategie. Durch eine friedliche Aktion versuchten sie, ihr beschädigtes Image wieder aufzubessern.
Mit dem beinahe konfliktfreien Ablauf der Demonstration konnten die Veranstalter – neben der Dělnická strana (Arbeiterpartei) auch der gerichtlich verbotene tschechische Nationale Widerstand - den Eindruck erwecken, sie wollten den Sturz des herrschenden Systems nun doch mit politischen Mitteln erreichen.
Kein Platz für Neonazigegner
Die Stadt Ústí mit ihren hunderttausend Einwohnern glich am Samstagabend einer Geisterstadt. Die Grabesstille unterbrach nur das Dröhnen eines den ganzen Tag über das Geschehen in der Stadt verfolgenden Polizeihubschraubers. Nach erfolglosen Anträgen auf eine Billigung des Verbots des angekündigten Neonazimarsches durch das zuständige Gericht hatte der Bürgermeister der Stadt Jan Kubata seine Bürger im Vorfeld dazu aufgerufen, am Tag des Marsches ihren Wohnort zu verlassen. Inhaber von Geschäften an der geplanten Trasse des Marsches vernagelten ihre Scheiben mit Spanplatten. Ein Großteil der Restaurants hatte geschlossen und selbst das örtliche Theater sagte seine Vorstellungen für diesen Tag ab.
Anstatt sich an die Spitze einer Gegendemonstration zu stellen, verbot der Bürgermeister sämtliche geplanten Protestkundgebungen. Die ortsansässigen Marschgegner machten aus der Not ein vermeintliche Tugend und plakatierten an der Demonstrationstrasse Fotos von Menschen, die „den Nazis den Rücken zukehren“. Angeblich wolle man mit Ignorierung und mangelndem Interesse gegen die Neonazis Front machen.
Dennoch fanden sich etwa 150 Menschen, die sich der Anordnung des Rathauses widersetzten und in einer Nebenstraße auf den Demonstrationszug warteten. Als dieser sich näherte, skandierten sie „Wir wollen keine Nazis in Ústí“. Woraufhin die Polizei Knallkörper in die Menge warf und unter Einsatz von Schlagstöcken brutal gegen die Protestierenden vorging.
Die Teilnehmer des Schweigemarsches zeigten sich unbeeindruckt und zogen unter massivem Polizeischutz ungestört weiter. Auch am Bahnhof der Stadt kam es später noch zu vereinzelten Scharmützeln, deren die Polizei jedoch rasch Herr wurde.
Premier und Staatspräsident schockiert
In derselben Nacht warfen bislang unbekannte Täter mehrere Brandsätze in ein Haus im nordmährischen Dorf Vítkov, das von einer Romafamilie bewohnt wurde. Binnen Minuten ging das gesamte Haus in Flammen auf. Am schlimmsten betroffen ist das zweijährige Mädchen Natalie. Es erlitt Verbrennungen zweiten und dritten Grades an praktisch allen Teilen ihres Körpers. Nach Angaben der behandelnden Ärzte hat sie nur geringe Überlebenschancen. Auch seine beiden Eltern wurden schwer verletzt und liegen auf der Intensivstation.
Die Reaktionen von Spitzenpolitkern glichen einem plötzlichen Erwachen aus dem Tiefschlaf. Am Tag nach dem Anschlag zeigte sich der noch amtierende Ministerpräsident der kürzlich gestürzten tschechischen Regierung Mírek Topolánek beunruhigt vor „dem Erstarken des Extremismus“. Er rief die Ermittlungsbehörden dazu auf, alles zu tun, um den Verdacht auf einen rassistischen Hintergrund des Überfalls zu überprüfen. Er sehe einen Zusammenhang zwischen der „politischen Aktivierung der Extremisten“ und „direkter Gewalt gegen Einwohner“.
Es bestehen jedoch Zweifel daran, dass die Spurensicherung vor Ort genügend Zeit für ihre Arbeit hatte. Schon am selben Tag wurden Teile der Hausruine geräumt, um die entlang des Hauses führende Landstraße wieder für den Verkehr freizugeben.
Der sozialdemokratische Oppositionsführer Jiří Paroubek schob dem amtierenden Innenminister die Verantwortung für die Zunahme des Rechtsextremismus in die Schuhe. Der christdemokratische Finanzminister Miroslav Kalousek sprach von einem „Terrorangriff“. Und selbst Staatspräsident Václav Klaus, der dieses Thema über Jahre hinweg schlichtweg ignoriert hatte, konnte sich dazu durchringen, eine lückenlose Aufklärung dieser „widerwärtigen Tat“ zu fordern.
Roma-Organisationen: „Fluchtwege offen halten“
Eine Koalition von Roma-Organisationen namens „Bewegung Roma-Widerstand“ sprach schon am Sonntag der Regierung ihr „absolutes Misstrauen“ aus. Es handele sich bei dem Überfall um keinen Einzelfall, sondern um die logische Folge eines „versagenden Staatsapparats“. Sie rief die Regierung Kanadas dazu auf, den „an Roma in der Tschechischen Republik verübten Terror“ nicht zu übersehen. Diese hatte auf Grund der in den letzten Monaten bedrohlich zunehmenden Zahl von Asylsuchenden aus Tschechien gedroht, die Visapflicht wieder einzuführen.
Schon im Jahre 1997 war dies der Fall gewesen, nachdem Tausende von tschechischen Roma in dem Überseestaat Zuflucht vor Diskriminierung und rassistischen Überfällen in ihrem Heimatland gesucht hatten. Erst nach zehn Jahren hob Kanada die Visapflicht von Tschechen wieder auf.
"Wenn unsere gewählten Abgeordneten und die Gerichte nicht aufwachen und die Dinge in diesem Zustand belassen, dann drohen hier wirklich Unruhen“, erklärte Kumar Vishwanathan. Er arbeitet seit Jahren in einem Romaverband für Sozialarbeit und sprach noch am Sonntag mit Mitgliedern der betroffenen Familie.
Gefragt sind gewöhnliche Bürger
Rechtsextremismusexperten wiesen noch am Sonntag gegenüber der Tschechischen Nachrichtenagentur ČTK auf die Ursachen der neuesten Entwicklungen hin. Laut dem Politologen Jan Chárvat bekomme der in der Bevölkerung weithin verbreitete latente Rassismus Aufwind, wenn eine legale politische Partei ihn auf ihre Fahnen schreibt. Dieses Problem könne aber nicht der Staat, sondern nur die Gesellschaft lösen.
Ihren bisher größten Erfolg haben die Neonazis bei ihrem im nordböhmischen Litvínov im vergangenen November verzeichnen können, als sich große Teile der ansässigen Bevölkerung dem Marsch auf ein Roma-Viertel anschlossen. Es gab keine Gegendemonstration. Der Extremismusexperte Zdeněk Zbořil erklärte, dass erst wenn eine größere Zahl von „gewöhnlichen Menschen“ gegen die Neonazis auf die Straße gehen, die Gesellschaft eine Chance habe, deren politischen Einfluss einzudämmen. Davon ist Tschechien weit entfernt.
Die Stadt Ústí und die nordböhmische Polizei haben nach der Eskalation der Gewalt in Nordböhmen im Herbst den Ausbruch von neuen Unruhen verhindern können. Zu welchem Preis ihnen das gelungen ist, ist noch fraglich. Das ungehinderte Marschieren unter einer deutschen Reichsfahne in dem ehemals von deutscher Gestapo terrorisierten Land ist bezeichnend für den beträchtlichen Nachholbedarf der tschechischen Gesellschaft in Sachen Aufklärungsarbeit über das tragischste Kapitel ihrer Geschichte.
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