Ausschnitt aus dem Titelbild der Broschüre „Le_rstellen im NSU-Komplex: Geschlecht, Rassismus, Antisemitismus“ der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus.
Amadeu Antonio Stiftung

5 Jahre am Oberlandesgericht München – eine Chronik des NSU-Prozesses

Eine Zusammenfassung des Prozesses gegen Mitglieder und Unterstützer der rechtsterroristischen Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)", deren Taten zehn Menschen das Leben kosteten. 

 

Von Ana Lucia Pareja Barroso

 

Im NSU-Prozess angeklagt sind Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Carsten Schultze und Holger Gerlach. Der Anklageschrift schlossen sich 95 Nebenkläger*innen an, die durch 60 Nebenklage-Vertreter*innen repräsentiert werden. Beate Zschäpe wird als Mitglied des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, der mutmaßlich zwischen den Jahren 2000 und 2007 neun Männer aus rassistischen Motiven und eine weiße deutsche Polizistin zum Opfer fielen. Bestandteil der Verhandlung sind außerdem der Mordanschlag auf den Kollegen der getöteten Polizistin, Martin A., der Sprengstoffanschlag in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004 mit mehr als 22 zum Teil schwer Verletzten und der Nagelbombenanschlag 2001 in der Kölner Probsteigasse mit einer Verletzten. Auch der Bombenanschlag in Nürnberg 1999 wird dem NSU und Beate Zschäpe zugerechnet. Darüber hinaus wird sie als mitverantwortlich für 15 Raubüberfälle
gesehen, die der Finanzierung der Gruppe dienten. Um Spuren zu beseitigen, habe sie nach dem letzten Überfall das mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gemeinsam bewohnte Haus in Zwickau angezündet und dabei den Tod anderer Menschen billigend in Kauf genommen: Dies wird als dreifach versuchter Mord im Zuge schwerer Brandstiftung gewertet. Ralf Wohlleben ist der Beihilfe zum Mord angeklagt – ihm wird vorgeworfen, den Kauf der Tatwaffe in Auftrag gegeben zu haben. Als Käufer und Überbringer der Česká 83 muss sich Carsten Schultze des gleichen Vorwurfs verantworten. André Eminger und Holger Gerlach sind jeweils der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Beide haben ihre Dokumente zur Verfügung gestellt, um Fahrzeuge und Wohnungen anzumieten und sich bei Arztbesuchen auszuweisen. Außerdem transportierte Gerlach die Tatwaffe. Schon zu Beginndes Prozesses gab es Kritik an der in der Anklageschrift vertretenen Tese, der NSU sei eine isoliert handelnde Zelle. Parallel wurde gegen neun namentlich bekannte Tatverdächtige ermittelt und ein Strukturermittlungsverfahren gegen unbekannt eingeleitet. Für eine parlamentarische Aufarbeitung entstanden auf Bundesebene zwei und in sieben Ländern zehn Untersuchungsausschüsse. Fünf der Ausschüsse haben ihre Arbeit noch nicht beendet, zivilgesellschaftliche Initiativen fordern in weiteren Bundesländern Untersuchungsausschüsse. Die Erkenntnisse der Ausschüsse können juristische Folgen nach sich ziehen.

 

Die Prozesseröffnung

Der ursprünglich für April 2013 terminierte Prozessbeginn wurde auf den 6. Mai verschoben. Die Presseakkreditierung führte zu breiter Kritik. Die türkische Tageszeitung Sabah stellte einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht – ein neues Akkreditierungsverfahren sicherte mit Blick auf die Herkunft der Ermordeten und das mediale Interesse auch internationalen Medien einen Platz im Verhandlungssaal. Vor Prozessbeginn beteiligten sich 10.000 Menschen an einer Großdemonstration gegen Rassismus und Neonazi-Terror in München, auch der Prozessauftakt wurde von Kundgebungen vor dem Gericht begleitet.

 

Die Mordserie

Gegenstand des ersten Prozessjahres waren die zehn Morde. Mit einem Bekenner*innenvideo und durch etliche Indizien belegt, ging es um die Frage der aktiven Beteiligung und gleichberechtigten Mitgliedschaft Zschäpes im NSU. Dabei belasteten die Aussagen der beiden Mitangeklagten Gerlach und Schultze Zschäpe und den Angeklagten Wohlleben schwer. Trotz umfassender Angaben bestritten die Teilgeständigen Gerlach und Schultze, gewusst zu haben, welche Ziele Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt verfolgten. Im Mordfall von Halit Yozgat wurde bekannt, dass der ehemalige Verfassungsschutzmitarbeiter und V-Mann-Führer Andreas Temme am Tatort war. Er meldete sich nicht als Zeuge bei der Polizei und sagte vor Gericht aus, nichts von der Ermordung mitbekommen zu haben. Seine Rolle bleibt ungeklärt. Am 1.10.2013 sagte Ismail Yozgat aus, der Vater des ermordeten Halit. Obwohl Richter Götzl ihn mehrfach unterbrach, nahm er sich den Raum, über den Tag zu sprechen, an dem sein Sohn ermordet wurde, und über die Folgen des Mordes und der rassistischen Ermittlungen für die Familie (vgl. NSU-Watch). Durch belastende Überreste im Brandschutt der letzten Wohnung des NSU sowie durch Blutspuren auf einer Jogginghose konnte der Mord an der Polizistin dem NSU zugeordnet werden, das Tatmotiv bleibt indes unbekannt.

 

Lücken in der Ermittlungsarbeit und V-Personen im Umfeld des NSU

Im zweiten Prozessjahr, 2014, war staatliches Mitverschulden durch das Versagen der Ermittlungsbehörden und der Einsatz von V-Personen im direkten Umfeld des NSU Gegenstand des Prozesses. Die Nebenklage konnte die Vernehmung einiger ehemals aktiver V-Personen erreichen, ihre Beweisanträge und Forderungen nach Akteneinsicht stießen jedoch bei der Bundesanwaltschaft (BAW) und dem Bundesamt für Verfassungsschutz auf erheblichen Widerstand. In Berufung auf Quellenschutz blockierte das Innenministerium Hessen u.a. die intensive Überprüfung von Andreas Temme und seinen Informanten. Vermeintliche Erinnerungslücken und der Gebrauch des Aussageverweigerungsrechts machten die Befragungen des Neonazi-Umfelds langwierig und besonders für die Nebenklage frustrierend.

 

Der Kölner Nagelbombenanschlag

Im dritten Jahr des Prozesses, 2015, stand zunächst der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 im Zentrum der Verhandlungen. Am 25. Januar 2015 organisierte die »Initiative Keupstraße ist überall« unter der Überschrift »Tag X« u.a. eine Dauerkundgebung vor dem Gerichtsgebäude und eine bundesweite Demonstration am Abend. Nach dem Anschlag wurden die Betroffenen und ihr Umfeld jahrelang verdächtigt und kriminalisiert. Obwohl das Gericht die Aussagezeit und die Inhalte stark zu beschränken versuchte, nahmen sich die Betroffenen den Raum, um über das Erlebte, die Folgen und die rassistischen Ermittlungen zu berichten.

 

Der NSU als terroristische Vereinigung

Danach ging es 2015 um den NSU als terroristische Vereinigung – um den strukturellen Aufbau, Organisationsgrad und die ideologische Verortung. Vereinzelt wurden unterstützende Neonazis geladen, bspw. aus der Chemnitzer Neonaziszene, darunter einige Zeuginnen. Auf Wunsch der Hauptangeklagten stieß Mathias Grasel zur Pflichtverteidigung Zschäpes hinzu. Er verlas für Zschäpe am 9. Dezember 2015 eine Erklärung, in der sie sich selbst darstellte als »emotional abhängig« von Böhnhardt und Mundlos, von den Anschlägen und Morden habe sie erst hinterher erfahren. In den folgenden Monaten beantwortete Zschäpe Fragen des Gerichts und der BAW schriftlich – nicht aber die der Nebenklage. Wohlleben folgte mit einer
eigenen Teileinlassung.

 

Neonazistrukturen und Raubüberfälle

Das vierte Prozessjahr, 2016, war den verschiedenen Kameradschaften und neonazistischen Vereinigungen gewidmet, bspw. »Blood and Honour«-Strukturen und dem Türinger Heimatschutz. Schultze, der v.a. den Angeklagten Wohlleben schwer belastete, musste auf Initiative der Wohlleben-Verteidigung mehrfach seine Glaubwürdigkeit beweisen. Die Nebenklage belegte mit Beweisanträgen und Zeug*innenvernehmungen das ideologisch gefestigte Weltbild aller Angeklagten und deren Unterstützung durch Neonazistrukturen. Ebenfalls verhandelt wurde die Mittäterschaft an 15 Raubüberfällen. Zusätzlich stellte die Nebenklage über 300 Fragen an Zschäpe, die unbeantwortet blieben und verdeutlichten, wie viel im NSU-Komplex
unaufgeklärt ist.

Befangenheitsanträge

Das fünfte Prozessjahr, 2017, war gezeichnet von Befangenheitsanträgen. Die Verteidigung versuchte das Strafverfahren durch zu lange Verhandlungspausen zum Platzen zu bringen sowie Gründe für eine mögliche spätere Revision des Verfahrens zu bekommen. Nachdem der vom Gericht beauftragte psychiatrische Gutachter Zschäpe im Falle einer Verurteilung volle Schuldfähigkeit zusprach, versuchte Zschäpe, mit einem weiteren psychologischen Gutachten von Prof. Dr. Joachim Bauer der möglichen Sicherungsverwahrung zu entgehen. Dieser Gutachter wurde aufgrund seiner Befangenheit vom Gericht abgelehnt.

 

Zivilgesellschaftlicher Widerstand

Londoner Wissenschaftler*innen rekonstruierten den Tathergang zum Mord an Halit Yozgat – mit dem Ergebnis, dass der V-Mann-Führer Andreas Temme die Schüsse gehört und den Ermordeten gesehen haben muss. Das Gutachten wurde allerdings nicht als Beweismittel in den  Prozess eingeführt. Im Mai wurde im Rahmen des Bündnisses »NSU-Komplex auflösen« mit weiteren Unterstützer*innen ein zivilgesellschaftliches Tribunal veranstaltet, bei dem Betroffene und Angehörige von NSU-Opfern von ihren Perspektiven und Erfahrungen berichteten. Dabei wurden in Form einer Anklageschrift 90 Personen stellvertretend der Verstrickung im NSU-Komplex angeklagt.

 

Plädoyers zum Ende des NSU-Prozesses

Am 25. Juli 2017 begann die Bundesanwaltschaft ihr Plädoyer. Für Zschäpe, aus Sicht der Bundesanwaltschaft gleichberechtigtes Mitglied des NSU und schuldig des 10-fachen Mordes, 39-fachen versuchten Mordes und der Beihilfe an 15 Raubüberfällen, lag die Strafforderung bei lebenslangem Freiheitsentzug mit anschließender Sicherungsverwahrung. Für den zweiten Hauptangeklagten Wohlleben forderte die Bundesanwaltschaft zwölf Jahre Haft. Für Gerlach lag die Strafforderung bei fünf Jahren, Schultze sollte nach Jugendstrafrecht mit drei Jahren Freiheitsentzug belangt werden. Für Eminger verlangte die Bundesanwaltschaft zwölf Jahre Haft für versuchten Mord sowie Beihilfe zu schwerem und besonders schwerem Raub. Die Verstrickung staatlicher Behörden dementierte die BAW sowohl zum Prozessauftakt als auch in ihrem Abschlussplädoyer, auch die Tese des von der Neonaziszene isoliert und nur geringfügig unterstützten Trios behielt die BAW bei.

 

»Ich lebe in diesem Land und ich gehöre zu diesem Land« – die Plädoyers der Nebenklage

Die Nebenklage kritisierte in ihren Plädoyers: Viele ihrer Beweisanträge sowie neue Erkenntnisse aus journalistischen Recherchen und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen seien nicht in den Prozess eingegangen und dadurch sei die vollständige Aufklärung des Komplexes unmöglich gemacht worden. Die Nebenklagevertreter*innen nutzten ihre Plädoyers dazu, den institutionellen Rassismus seitens der Behörden anzugreifen, sie kritisierten den konsequenten Ausschluss rassistischer Tatmotive und hinterfragten die enorme Dichte an V-Personen im Umkreis des NSU ohne erkenntlichen Beitrag zur Aufklärung der Taten. Mehrere Angehörige der Mordopfer und Betroffene aus der Keupstraße ergriffen in persönlichen Erklärungen das
Wort. Sie sprachen über die Folgen der Taten und rassistischen Ermittlungen und thematisierten die mangelnde Aufklärung im Rahmen des Prozesses. Nach den Nebenklageplädoyers folgen die Plädoyers der Verteidigung. Die Urteilsverkündung wird im Sommer 2018 erwartet und soll u.a. von der Initiative »Kein Schlussstrich« mit einem zweiten »Tag X« und Großkundgebungen begleitet werden.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre:

 

 

 Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der 

„Le_rstellen im NSU-Komplex: Geschlecht, Rassismus, Antisemitismus“.

Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung

Berlin 2018

 

Als PDF zum Download hier:

 

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