Unpassende Äußerungen zur WM gibt es natürlich nicht nur von unbekannten Menschen, wie dieser Tweet von Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, zeigt.
Screenshot Twitter

Der schmale Grat zwischen Patriotismus und Nationalismus

Party-Patriotismus ist bei Großturnieren erwünscht, nationalistische Äußerungen werden als Affekthandlung abgetan. Während des Ghana-Spiels schlug die Stimmung um.

Von Paul Hofmann und Anne-Sophie Balzer

Es läuft die 53. Minute des WM-Spiels Deutschland gegen Ghana. Ein Zuschauer rennt auf den Rasen, auf seinen nackten Oberkörper sind seine Telefonnummer und E-Mail-Adresse gemalt, zwei der Buchstaben ähneln den SS-Runen. "Überhaupt nicht Nazi", wird der polnische Mann anschließend auf seinem Facebook-Profil dementieren, es habe sich vielmehr um zwei "4"-Ziffern gehandelt. Nach brasilianischen Medienberichten wollte er lediglich Aufmerksamkeit erregen und Geld für weitere WM-Tickets und seine Rückreise sammeln.

In den sozialen Netzwerken: Offener Rassismus neben Deutschtümelei

Möglicherweise wollte er das tatsächlich. Zur gleichen Zeit waren in den sozialen Netzwerken offener Rassismus und deutschtümelnde Kommentare zu beobachten. "Alter, gegen eine Mannschaft verlieren wo sich niemand ein Ball leisten kann", schreibt ein User zum zwischenzeitlichen Rückstand der deutschen Mannschaft. Das sollte lustig sein, weil Ghana arm ist. Das kolonialrassistische Klischee teilen 53 andere Benutzer, 221 weitere favorisieren es.

Vielfach liest man den Begriff "Bimbo" oder Sklaverei-Anspielungen, noch öfter vermuten Nutzer, dass die Deutschen wegen ihrer dunkelhäutigen Gegenspieler bald "schwarz sehen" würden. Den Gipfel erreicht ein einzelner Tweet, den den Spielern von Ghana wünschte, sie mögen "mitten auf dem Spielfeld an AIDS" sterben.

Seine Verfasserin bekommt Beleidigungen und Morddrohungen, sie entschuldigt sich später bei Facebook für ihre "unbedachte Äußerung". Der Fankulturforscher Gunter A. Pilz, der beim DFB die Arbeitsgruppe Fair Play leitet, sieht in solchen Entgleisungen noch keine problematische Tendenz, wobei jede einzelne aber "eine zu viel" sei.

Fankulturforscher: Jede Entgleisung ist eine zu viel - wegen des Mitläufer*innen-Effekts

Pilz warnt davor, übergriffige Äußerungen unreflektiert stehen zu lassen. "Wir müssen wachsam sein und überlegen, wie unsere Begeisterung für Fußball und die deutsche Nationalmannschaft keine Bühne für Nationalismus oder Rassismus darstellt", sagt er im Gespräch. Der deutsche "Party-Patriotismus" sei nicht per se gefährlich, laufe aber Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Jeder müsse sich deshalb gewahr sein, dass andere Gesinnungen dankbar und unauffällig an den Patriotismus der Massen andocken.

Selbstverständlich ist nicht allen Fans, die eine deutsche Fahne schwenken oder sich parteiisch mitteilen, Nationalismus zu unterstellen. Die Wissenschaft vermutet bei vielen einen Mitläufer-Effekt: Sie sehen und genießen den Turnierwirbel um sich herum. Wenn eine deutsche Mannschaft überdies noch erfolgreich ist, will man eben dabei sein.

Rassistische Werbung zur WM

Diese Prozesse befeuert bisweilen auch die Werbewirtschaft, exemplarisch ist eine ältere Werbung des Autovermieters "Sixt". Unter dem Slogan "Ghana – Das könnte eng werden" stehen sich ein moderner Mercedes und ein übervoller, verschmutzter Truck gegenüber. Die Botschaft? Der geordnete, saubere, technisch überlegene Deutsche trifft auf den Barbaren, bei dem es eng wird auf der Ladefläche. "Ein hochpeinlicher Ausrutscher", sagt Pilz.

Es ist ein Ausrutscher, der stellvertretend für das verbreitete Ressentimentdenken steht, dass für einige Forscher eng mit dem Verständnis von Staatsbürgerschaft zusammenhängt. "Wenn das alltägliche Staatsverständnis wie bei uns von genetischer Abstammung geprägt ist, wirkt sich der Nationalismus stärker negativ aus", erklärte etwa der Wissenschaftler Ulrich Wagner während der EM 2012 der Süddeutschen Zeitung.

Das eigene Land lieben - oder andere verachten?

Die Identifikation mit dem eigenen Land ist der Kern, den der Nationalismus und der Patriotismus gemein haben. Ihre Grenze verläuft fließend und für viele unsichtbar: Stolz auf die deutsche Demokratie oder deutsche Errungenschaften zu sein, ist die eine Sache. Sie gegen andere Länder diskreditierend, diffamierend oder gar übergriffig auszuspielen, die andere. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau sagte es treffend: "Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet."

Gunter A. Pilz sieht den Fußball nicht als den Ursprung, wohl aber als eine Angelegenheit, "die Nationalismen fördern kann". Da der organisierte, parteiliche Rechtsextremismus fast aus der Öffentlichkeit verschwunden sei, ziehe er sich zunehmend in Nischen wie die Fankurven zurück. Deren Mitglieder neigen im Streben nach einer positiven Selbstbewertung dazu, ihre eigene Gruppe positiv gegenüber einer anderen abzusetzen. Sie mobilisieren Affekte gegen eine Fremdgruppe, um ihren Zusammenhalt zu stärken. Aufwertung durch Abwertung, so das Prinzip, das international schnell fremdenfeindliche Züge wie das "Blackfacing" annimmt, gegen das die Fifa mittlerweile ermittelt. 

Dem Alltagsrassismus in sozialen Netzwerken wie Twitter ist schwieriger beizukommen als dem im Stadion. Zwar können seine Übergriffe gemessen an Zehntausenden Tweets nicht als repräsentativ gelten. Gleichzeitig aber zeigen Spiele wie gegen Ghana, dass die Netzanonymität dem Fußball-Nationalismus mit Ressentiments und Pöbeleien eine Bühne bietet. Der polnische Flitzer wurde am Ende einfach vom Platz eskortiert. Viele der Kommentare auf Twitter und Facebook stehen noch immer.

Dieser Artikel erschien zuerst auf ZEIT Online. Mit freundlicher Genehmigung.

Dieser Text wurde zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 geschrieben.

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