Wir dokumentieren die schlimmsten Entgleisungen während der ersten Woche der Fußball-WM.
Screenshot Facebook/Antifaschistisch-leben-handeln-kämpfen

Fußball-WM, Woche 1: Party-Patriotismus fordert erstes Opfer in Nidda

Seit Donnerstag vor einer Woche findet die Fußball-WM in Brasilien statt. Dass diese nicht ohne rassistische Zwischenfälle ablaufen würde, war zu erwarten. Beim gemeinsamen Fußballschauen offenbaren sich die Abgründe des unverkrampften Nationalismus. Trauriger Höhepunkt: Am Montag Abend wurde nach einer Public-Viewing- Veranstaltung  in Nidda im Wetteraukreis ein türkischer Lebensmittelhändler von einem Deutschland-Fan zusammengeschlagen und schwer verletzt. Aber auch in der medialen Berichterstattung oder in sozialen Netzwerken bekleckert sich ein mancher nicht mit Ruhm. Wir dokumentieren einige der Entgleisungen der ersten WM-Woche.

Von Joschka Fröschner

+++ Warnung: Dieser Artikel dokumentiert rassistische und diskriminierende Entgleisungen während der Fußball-WM. Deshalb enthält er an einigen Stellen rassistische und diskriminierende Sprache. +++

Seit etwas über einer Woche rollt der Ball in Brasilien. Auch die deutsche Nationalmannschaft hat bereits ihr erstes Spiel absolviert. Sie gewann am Montagabend 4 zu 0 gegen das Team aus Portugal. Wie vielerorts in Deutschland hatten sich auch in Nidda im Wetteraukreis viele Menschen zum „Public Viewing“ versammelt. Nach dem Sieg der DFB-Elf kam es dort zum mittlerweile fast schon obligatorischen „Auto-Korso“. Dabei fuhren die TeilnehmerInnen falsch herum durch eine Einbahnstraße, worüber sich ein ansässiger türkischer Lebensmittelhändler beschwerte. Daraufhin kam es zum Streit, der Mann wurde von einem Korso-Teilnehmer so schwer verprügelt, dass er mit einem Kieferbruch ins Krankenhaus eingeliefert werden und operiert werden musste. Die Ermittlungen zum genauen Tatzusammenhang dauern noch an, erklärt die Polizei.

Auch im lauenburgischen Mölln zeigten sich siegestrunkene Deutschlandfans von ihrer hässlichen Seite. Sie waren, wie ein Video zeigt, vermutlich zu ausgelassen um sich in irgendeiner Form am Ruf „Sieg Heil“ zu stören, der sich unter das andere Gegröle („Scheiß Portugal!“ „Wir werden Weltmeister!“) mischte. Wie ein Kommentator auf Facebook anmerkt, ereignete sich der Vorfall nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem Neonazis im Jahr 1992 einen Brandanschlag verübten, bei dem drei Menschen starben.

Zwischenfälle in den Stadien

In Brasilien selbst ist es ebenfalls bereits zu mehreren Zwischenfällen in den Stadien gekommen. Einige der angereisten Fans benahmen sich reichlich daneben. Nach Hinweisen des Netzwerks FARE, das diskriminierendes Verhalten in den Stadien überwacht, wurden bereits gegen Fans aus vier Nationen Ermittlungen der FIFA eingeleitet:

  • Brasilianische und mexikanische Fans fielen bei den Spielen ihrer Mannschaften mit homophoben Sprechchören auf. Bei den mexikanischen Fans scheint es bei dieser WM zum guten Ton zu gehören, den Torhüter der gegnerischen Mannschaft bei dessen Abstößen mit homophoben Unflätigkeiten zu belegen.
  • Russische Fans haben zum Spiel ihrer Mannschaft gegen Südkorea ein neonazistisches Banner ins Stadion gebracht. Auf diesem waren der SS-Totenschädel und ein Keltenkreuz zu sehen.
  • Auch gegen kroatische AnhängerInnen wird wegen eines faschistischen Transparents ermittelt. Auf diesem war das Wappen eines faschistischen Regimes zu sehen, dass während des zweiten Weltkriegs unter Kontrolle von Nazi-Deutschland stand.

Ein weiterer Zwischenfall ereignete sich während des Spiels von Argentinien gegen Bosnien-Herzegowina. Wie die brasilianische Polizei bestätigte, nahm sie zwei Fans aus Argentinien zwischenzeitlich in Gewahrsam. Die beiden waren über den Jubel einer Gruppe Brasilianer*innen für die bosnische Mannschaft so erbost, dass sie diese als „kleine Affen“ beschimpften.

Mediale Berichterstattung

ARD-Kommentator Steffen Simon lies die Fernsehzuschauer*innen der Partie Iran gegen Nigeria an den Ergebnissen seiner knallharten Recherche teilhaben. „Die Iraner, das sind Südländer, da ist nicht alles perfekt organisiert“, wusste Simon zu berichten. Damit unterstellte Simon einen intrinsischen Zusammenhang zwischen „südländisch sein“ und mangelnder Organisation – eine rassistische Argumentationslinie. Simon entschuldigte sich zwar noch während des Spiels für seinen „politisch unkorrekten“ Kommentar, der auf den Informationen von Iranern beruht hätte, Rassismus wollte er aber nicht einräumen.

In der Nachberichterstattung zum Spiel von Italien gegen England traten gleich mehrere Medienoutlets ins Fettnäpfchen. Mario Balotelli, Schwarzer Nationalspieler Italiens und Schütze des entscheidenden Tores gegen England, wurde von n-tv, N24, dem Mannheimer Morgen und der italienischen Sportzeitung „Gazzetta dello Sport“ als „Dschungelkönig“ bezeichnet. Dass die Verknüpfung eines Schwarzen Spielers mit dem Begriff „Dschungel“ eine rassistische Assoziationskette bedient, hätte den betreffenden Journalisten eigentlich auffallen müssen.  Auch wenn das Spiel in Manaus in Amazonien stattfand – und somit in der Vorstellungswelt deutscher Berichterstatter im Dschungel – die Verbindung von Balotelli mit Dschungel funktioniert nur, weil Balotelli Schwarz ist, und beruht somit auf einem kolonialrassistischen Klischee.

Italien – England: Abgründe auf Twitter

Das Spiel der Italiener gegen England war im Allgemeinen für viele deutsche Twitteruser*innen der Anlass, massenhaft abwertende und beleidigende Kommentare in den Cyberspace zu blasen. Hier zeigt sich, wie tief der Stachel nach dem mehrfachen Ausscheiden der DFB-Elf gegen die „Squadra Azzurra“ aus Italien noch im nationalen Bewusstsein sitzt. Auch hier war Mario Balotelli Zielscheibe rassistischer Kommentare:

Wie übel  der ein oder die andere, auf einmal gar nicht mehr partylike entspannt, den Italienern ihren Erfolg gegen das deutsche Team nimmt, wird an diesem Tweet deutlich:

Überhaupt waren die Hashtags bzw. Bezeichnungen #Inselaffen, #Spaghettifresser, #Nudellutscher und #Pizzafresser bei deutschen Twitter-User*innen recht beliebt:

Aber auch in England war man über die Niederlage gegen Italien, gelinde gesagt, enttäuscht. So verbrannten einige englische Fans in Bedford die italienische Nationalflagge. Die Flagge der gegnerischen Nationalelf zu verbrennen, hielten auch einige deutsche Jugendliche für eine ausgezeichnete Idee , wie ein auf „Youtube“ aufgetauchtes Video zeigt. Und das, obwohl Deutschland gegen Portugal gewann.

Ignoranz kennt keine Nationalität

Wie tiefgreifend rassistische Stereotype vor allem über „die Afrikaner“ verwurzelt sind, zeigen auch Vorfälle, die sich außerhalb Deutschlands ereigneten. So lies der australische Ex-Nationalspieler Scott Chipperfield die Twitter-Welt während des Spiels Elfenbeinküste gegen Japan an seinem Exklusivwissen über den „typischen Afrikaner“ teilhaben. Er schrieb: „Serey looks like a typical African. Forget how to play. Need brains to play football.” [Serey sieht aus wie ein typischer Afrikaner. Vergisst wie man spielt. Braucht Gehirn zum Fußballspielen].

Nicht ganz so furchtbar, aber doch um Meilen verpasste die US-amerikanische Fluglinie „Delta Airlines“ die Hürde zu kulturell wertvoller Kommentierung der WM. Als Reaktion auf den Sieg der US-Amerikaner gegen Ghana twitterte die Fluglinie ihre Glückwünsche, bebilderte das Ergebnis "USA 2 – Ghana 1" allerdings mit der Freiheitsstatue für die USA respektive einer Giraffe für Ghana:

Der Tweet ging ordentlich nach hinten los – in Ghana gibt es keine Giraffen. Zu Recht wurde der Tweet von den meisten Nutzer*innen als klischeehaft und stereotypisierend  eingestuft. Delta Airlines zeigt also, dass die Fluggesellschaft anstatt über Detailwissen über einzelne Nationen scheinbar nur über eine Ansammlung von Afrika-Stereotypen á la „Der König der Löwen“ verfügt. Die Airline entschuldigte sich umgehend für die Bildwahl.

In Deutschland tut man sich ebenso schwer, Spiele afrikanischer Mannschaften ohne rassistische Entgleisungen zu kommentieren, wie dieser Tweet zeigt:

Die erste WM-Woche zeigt also: Mit der Geschichte vom unbelasteten und friedlichen Nationalismus ist es weder in Deutschland noch in vielen anderen Ländern allzu weit her.

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