Teilnehmer der rechtsextremen Großdemonstration in Dresden im Februar 2009.
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Wann beginnt eigentlich Rechtsextremismus?

Mit keiner Frage kann man einen wissenschaftlichen Rechtsextremismusexperten so schön nerven, wie mit der: Was ist das eigentlich, Rechtsextremismus? Und ist das definiert, schließt sich noch die Frage an, wie dem Phänomen zu begegnen ist.

Von Dierk Borstel

Mit keiner Frage kann man einen wissenschaftlichen Rechtsextremismusexperten so schön nerven, wie mit der: Was ist das eigentlich: Rechtsextremismus? Die Frage trifft einen wunden Punkt; denn so genau wissen das viele gar nicht; aber fast jeder – auch Nichtwissenschaftlicher – hat dazu eine private Vorstellung und die Konsequenz ist ein ziemliches definitorisches Kuddelmuddel und die Praxis steht mit ihren konkreten Jugendlichen und Erwachsenen kopfschüttelnd daneben.

Versuchen wir mal, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Zunächst fällt auf, dass je nach Verständnis die Größenordnung derjenigen, die rechtsextrem seien, sehr unterschiedlich ausfällt. Dem Verfassungsschutz nach sind lediglich 0,038% der Deutschen rechtsextrem, die Sinus-Studie von 1980 sprach dagegen von 18% und seitdem schwanken viele Zahlen zwischen 10 und 25% der Deutschen. Wie sind die Unterschiede zu erklären?

Definitionen mit Trick

Wie immer gibt es bei Definitionen einen Trick: Will ich die Zahl klein halten, enge ich die Definition so ein, dass ich kaum noch jemand finde, den ich erfassen könnte. Der Verfassungsschutz zählt zum Beispiel nur jene Personen zum Rechtsextremismus, die sich deutlich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung – das sind die Kernaussagen des Grundgesetzes – wenden. Wenn jedoch ein Rassist, Antisemit und Hitler-Verehrer seinen Frieden mit dem Staat gemacht hat, zum Beispiel weil er ihn nicht stört, ist er rein definitorisch kein Rechtsextremist.

Das sehen viele Sozialwissenschaftler anders. Für sie ist ein Rechtsextremist auch dann ein Rechtsextremist, wenn sich sein Tun nicht primär gegen den Staat richtet, sondern z. B. gegen Juden und Migranten. Sie betrachten die Einstellungsebene und fragen: Was denkt die Person? Denkt er z. B. in rassistischen, antisemitischen und nationalistischen Kategorien? Dann ist er ein Rechtsextremismus und zwar auch dann, wenn er am Wahltag SPD wählt, sich ansonsten an der Sportschau erfreut und ein unauffälliges Leben führt. Der Bezug zum Staat ist somit eine erste Möglichkeit, Zahlen zu verkleinern.

Sind nur Hitler-Nostalgiker rechtsextrem?

Eine andere Option ist der Bezug zum historischen Nationalsozialismus. Viele Forscher sprechen erst dann von einem Rechtsextremisten, wenn er sich positiv oder gar nostalgisch zum Hitler-Regime bekennt. Nun gibt es heute aber viele, ich komme wieder darauf zurück, Rassisten, Antisemiten und/ oder Nationalisten, die zum Beispiel in Hitler einen Verbrecher am deutschen Volk sehen, weil er den Krieg verloren hat. Diese Personen wollen einen neuen nationalsozialistischen Staat, der sich bewusst von dem alten abgrenzt. Die Folge für die Definition ist: Zieht man die Leine wieder an, sind es keine Rechtsextremisten.

Bearbeitet werden immer noch Einstellungen

Der Praxis ist damit jedoch nicht geholfen, bleiben sie doch vielleicht mit hart verdaulichen Antidemokraten konfrontiert. Und da zeigt sich auch ein gemeinsamer Kern vieler Definitionen: So gibt es wohl keinen Rechtsextremisten, der nicht Rassist, Antisemit, Nationalist ist und für einen autoritären und abgeschotteten Staat wirbt.

Hinter diesem Wirrwarr steckt für die Praxis eine Konsequenz, nämlich in der Beantwortung der Frage, auf welches Phänomen eigentlich wie zu reagieren ist. Nimmt man die Verfassungsschutzdefinition muss der Blick an den Rand der Gesellschaft fallen und die Frage gestellt werden: wo ist diese verschwindende Minderheit brutaler Revolutionäre? Oder wende ich mich der Einstellungsebene zu; denn dann kommt der Rechtsextremismus oft nicht im Kämpfergewand daher sondern eher brav und bieder, unbewusst und unreflektiert?

Staatsverteidigung? Demokratische Kultur?

Die Folgen sind je nach Verständnis für die Praxis vehement und lassen sich überspitzt in zwei Alternativen zusammenfassen: Betreibe ich offene Staatsverteidigung oder versuche ich auch den subversiven, den versteckten und oft nicht ausgelebten Rechtsextremismus zu erkennen und zu bekämpfen? Die offene Staatsverteidigung geht wohl nur mit Mitteln der Repression. Die Alternative ist die Pflege der demokratischen Kultur, die wahlweise so attraktiv ist, dass sie Leute begeistert (wovon wir Lichtjahre entfernt sind) oder zumindest so stark ist, dass sich die Rechtsextremisten nicht recht trauen, ihre Ansichten auszuleben. Der Praxis ist die exakte Definition vermutlich egal: Sie muss sich schlicht für eine Grundlinie der Auseinandersetzung entscheiden, während die Gelehrten weiter an der Grundlage ihrer Forschung basteln und sich je nach Charakter an ihrem Pluralismus erfreuen oder sich über die Kollegen ärgern können.

Transferstrecke – Dialog zwischen Theorie und Praxis

Zwischen Wissenschaft und Praxis herrscht oft Sprachlosigkeit. Die Wissenschaft zielt auf allgemeine Aussagen und die Praxis reagiert auf konkrete Geschehnisse, die nicht in jeder Theorie vorgesehen sind. So kommt es nicht selten zu Missverständnissen und Anfeindungen: Die Theorie beklagt dann die fehlende theoretische Reflexion der Praxis. Die Praxis mokiert sich über die Abgehobenheit der wissenschaftlichen Debatten.

Das ist bedauerlich. Schließlich können beide Seite auch voneinander profitieren; nämlich dann, wenn die Wissenschaft allgemeine Zusammenhänge aufzeigt, die in der Praxis relevant erscheinen und wenn die Praxis solche Beispiele bietet, die Verallgemeinerungen überhaupt erst zulassen. Es bedarf somit eines Transfers.

In den folgenden Monaten soll auf Belltower.news eine kleine Reihe entstehen, die sich der Frage des Transfers widmet. Anhand kurzer Texte, Rezensionen und Berichte soll immer wieder gefragt werden: Was kann daraus die Wissenschaft und was die Praxis lernen? Wo gibt es Brücken und wo gibt es Hindernisse, die nicht überbrückt werden können? Was lässt sich voneinander lernen? Die Texte sollen dabei kurz, allgemein verständlich und bewusst nicht fußnotengesättigt daherkommen.

Für dieses Experiment verantwortlich ist Dierk Borstel. Er arbeitet sowohl wissenschaftlich an zwei Universitäten in Bielefeld und Greifswald sowie praktisch im Themenfeld Rechtsextremismus im Rahmen der Initiative EXIT-Deutschland.

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