Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Homophobie

Wie sieht Homophobie im Alltag aus?BildungsreferentInnen bei "KomBi – Kommunikation und Bildung", einer 1981 gegründeten Berliner Einrichtung, die Trainings und Fortbildungen zu den Themen Diversity, Gender und Sexuelle Identität, berichten.

Von Thomas Kugler und Stephanie Nordt

Nico

Der 14-jährige Nico besucht die 8. Klasse an einer Hauptschule in einem Berliner Innenstadtbezirk. Er lebt bei seiner Mutter, einer Verwaltungsangestellten. Zum Vater, einem in Italien geborenen Fitnessstudio-Mitarbeiter, hat er nur ab und zu Kontakt.

Mit elf Jahren vermutete Nico erstmals, dass er schwul sein könne, als er sich in einen anderen Jungen verliebte. Er erlebte sehr gemischte Gefühle: das Verliebtsein war sehr aufregend, doch er kannte das Wort »schwul« nur aus negativen Zusammenhängen wie Beschimpfungen und abwertenden Sprüchen. Die Wahrhaftigkeit seiner Gefühle stand in starkem Widerspruch zu seiner Vorstellung von schwulen Männern, die geprägt war von Klischees wie tuntigem Verhalten,Federboas und Sexbesessenheit.

In seinem Alltag kannte er nur lautstarke Sprüche von Jungen, die jedes »unmännliche« Verhalten als »schwul« abstraften, und Witzeleien, in denen Schwule sehr schlecht wegkamen. Nico musste sich mit dem Gefühl auseinandersetzen, so, wie er ist, nicht in Ordnung zu sein.

Nico war lange unsicher, ob er wirklich schwul ist. Er beobachtete seine Umgebung: Wie wird über das Thema Schwulsein gesprochen? Wer spricht überhaupt davon? Und wie ernsthaft? Im Schulunterricht kam das Thema nicht vor. Nico erlebte, wie auch Lehrer über Schwulenwitze seiner Mitschüler mitlachten.

Er machte sich auf die Suche nach Informationen im Internet. Viele Webseiten drehten sich nur um das Thema Sex. Doch über einen lesbisch-schwulen Jugendverband stieß er auf eine Beratungsstelle, bei der er in einem anonymen Gespräch die Fragen stellen konnte, die ihn bewegten. Dieses Gespräch war sehr hilfreich für Nico.

Einen Monat später stand für ihn nicht nur fest, dass er schwul ist, sondern auch, dass das »gut so« ist. Drei Jahre hatte er für sein inneres Coming-out benötigt, den Prozess der Anerkennung seiner sexuellen Orientierung.

Nico ist aktuell in einen Mitschüler verliebt. Als er ihm deshalb einen Brief schreibt, reagiert der Junge stark abgrenzend. Er weist Nico zurück und informiert die anderen Schüler und Schülerinnen öffentlich, dass er mit »der Schwuchtel« nichts zu tun haben wolle. Seitdem ist Nico permanenten Anfeindungen ausgesetzt. Auf dem Schulhof hört er abwertende Sprüche wie »Da kommt die Schwuchtel!« Fremde Jungen schubsen ihn von hinten und machen dabei verletzende Kommentare wie »Von hinten magst du‹s doch!« Sein Banknachbar in der Schule weigert sich, weiter neben Nico zu sitzen. In der Umkleidekabine hört er Sätze wie »Ey, Schwuli, glotz mich nicht so an!« und wird aufgefordert, sich abseits von den anderen in der Duschkabine umzuziehen.

Die Situation wird für Nico immer unerträglicher. Seine Mutter bemerkt seine zunehmende Verzweiflung und die nachlassenden schulischen Leistungen und fragt ihn,was los sei. Nico berichtet ihr vom Grund seiner Schwierigkeiten. Sie reagiert irritiert. Er könne das in seinem Alter noch gar nicht wissen. Außerdem solle er es niemals und unter keinen Umständen seinem Vater erzählen. Das sei bestimmt nur eine Phase.

Nicos Verzweiflung wächst. Er denkt daran, sich umzubringen. Erneut ruft er die Beratungsstelle an. Die empfiehlt, sich Unterstützung vor Ort zu holen: etwa durch den Besuch einer schwulen Jugendgruppe und auch ein Gespräch mit einem Vertrauenslehrer seiner Schule. Der Vertrauenslehrer meint, Nico habe mit seinem unfreiwilligen Outing einen Fehler gemacht. Er rät ihm zu einem Neuanfang an einer anderen Schule. Wenn er sich ein wenig anpasse, werde er sicher keine weiteren Schwierigkeiten haben, er sei doch ein ganz sympathischer Junge.

Jasmin

Mit knapp 13 Jahren verliebt Jasmin aus Mainz sich zum ersten Mal in eine Mitschülerin.
Monatelang erlebt sie ein Wechselbad widersprüchlicher Gefühle. Sie freut sich, die Mitschülerin täglich zu sehen und ekelt sich zugleich vor ihren gleichgeschlechtlichen Gefühlen.

Das Schlimmste ist: Sie kann mit niemandem darüber sprechen. Sie hat Angst vor den Reaktionen ihrer Freundinnen und der Mitschüler und Mitschülerinnen. Die Eltern, ein Architekt und eine Apothekerin, zu denen Jasmin eigentlich ein sehr gutes Verhältnis hat, kommen als Ansprechpersonen auch nicht in Frage,weil sie Jasmin seit einiger Zeit mit Fragen nach einem Freund löchern.

Nach zweieinhalb Jahren vertraut Jasmin sich Vicky an, ihrer besten Freundin aus dem Schwimmverein. Diese erzählt ihr völlig überraschend, dass sie auch ein Mädchen anhimmle. Beide erzählen sonst niemandem von ihren Gefühlen.

Im Schwimmverein werden blöde Sprüche über ein angeblich lesbisches Mädchen aus einem anderen Verein gemacht, bis dieses Mädchen schließlich nicht mehr in die Duschräume gelassen wird, wenn sich die anderen Mädchen aus dem Verein dort aufhalten.

Dann ziehen Jasmin und ihre Eltern nach Kassel. Jasmin verliert ihr gesamtes soziales Umfeld. Nach einigen Wochen lernt sie Lisa kennen, die Tochter einer Arbeitskollegin ihrer Mutter. Sie verliebt sich augenblicklich, fasst sich ein Herz und schreibt Lisa einen Brief. Noch ehe Jasmin eine Reaktion von Lisa bekommt, findet deren Mutter den Brief im Zimmer ihrer Tochter und läuft damit zu Jasmins Mutter. Die stellt ihre Tochter noch am selben Abend zur Rede. Sie ist entsetzt über das Lesbischsein ihrer Tochter.

Jasmin ist empört über den Vertrauensbruch. Als Jasmin die Situation nicht mehr länger aushält, trampt sie zu Vicky nach Mainz. Weil sie Angst hat, dass ihre Eltern sie dort finden, lebt Jasmin einige Tage auf der Straße in Frankfurt. Sie ist allerdings froh, als sie über eine Streetworkerin einen Platz in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft bekommt. Dieser Maßnahme müssen ihre Eltern zustimmen. Sie sind auch schnell einverstanden. Einerseits ist Jasmin erleichtert, gleichzeitig verletzt sie die scheinbare Interesselosigkeit ihrer Eltern.

Beim wöchentlichen Gruppentreffen der WG outet sich Jasmin, als sie nach dem Grund ihres Weglaufens gefragt wird. Danach wollen ihre Mitbewohner und Mitbewohnerinnen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie machen Jasmin mit lesbenverachtenden Sprüchen herunter und beschmieren ihre Sachen mit obszönen Zeichnungen. Die Betreuerin versucht, Jasmin zu trösten und die anderen zur Vernunft zu bringen, ist aber mit der Situation überfordert.

Jasmin wird immer verzweifelter. Nach Hause will sie keinesfalls, in der WG zu bleiben ist auch unmöglich. Sie denkt daran, sich umzubringen, damit das Drama ein Ende hat. Im Internet stößt sie auf die Website einer Berliner Einrichtung, die betreute Wohnangebote für lesbische, schwule, bisexuelle und Transgender Jugendliche anbietet. Dann geht alles relativ schnell. Sie zieht bald nach Berlin. Inzwischen geht die heute 17-jährige wieder regelmäßig zur Schule, in die 11. Klasse eines Kreuzberger Gymnasiums. In ihrer Klasse hat sie sich bisher nicht geoutet, doch möchte sie dieses Thema demnächst mit den anderen Mädchen in ihrer Coming-out-Gruppe besprechen.

Die Autorin Stephanie Nordt und der Autor
Thomas Kugler sind BildungsreferentInnen bei
KomBi – Kommunikation und Bildung, einer 1981
gegründeten Berliner Einrichtung, die Trainings und Fortbildungen zu den Themen Diversity, Gender und Sexuelle Identität durchführt.

Informationen zu KomBi im Internet:
www.kombi-berlin.de

Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre "Reflektieren. Erkennnen. Verändern. Was tun gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?" der Amadeu Antonio Stiftung. Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden.

Mehr zur Arbeit gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit:

| www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/gegen-gmf/

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